Unter Masken. Ludwig Fladerer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Fladerer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783904123600
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das war das Faktotum der Schauspielerkompagnie. Er spielte Krüppel, Verräter und Dorfidioten. In Stücken, die nur edle Menschen und Götter zeigten, durfte er seinen berühmteren Kollegen, die tatsächlich allesamt schön und edel aussahen, unsichtbar soufflieren. Manchmal, wenn sogar die schönen Schauspieler zu müde waren für ihre Feste und Liebschaften und sich erschöpft in ihre Quartiere zurückgezogen hatten, hörten sie aus dem Verschlag Jeans den gleichmäßigen Takt seiner Schritte. Er musste wohl deklamieren. Aber welches Stück, welche Rolle bot genug Text für so einen wie ihn? Der aber deklamierte das Stück seines Lebens, das er hinter dem Horizont der Zeiten ahnte.

      Jetzt kam Jean auf die Beine, Speichel glänzte auf seinem Kinn. Die Rechte bittend erhoben – wo hatte Lilljehorn diese Szene schon gesehen? –, überschlug er sich in Dankesworten. Einer der schwedischen Bauern, die den Ballsaal gestürmt hatten, spie Jean ins Gesicht. Dann schloss sich der Kreis der Zuschauer um Monvel. Lilljehorn war es, als würde Jean in das Dienstbotenzimmer neben der Küche getragen.

      Die Eindringlinge hatten das Weite gesucht. Dabei waren einige Fensterscheiben zerbrochen. Die Gäste verzichteten darauf, ihre Garderobe in Ordnung zu bringen, stießen die an den Büfetts aufgereihten Weingläser und Kaffeekännchen um, drängten in ihre Zimmer und rasch zur Treppe. Deutlich konnte Lilljehorn den Grafen Ribbing sehen, der sich gerade einen sicheren Platz auf halber Höhe der Treppe erkämpfte. In der Linken stützte er eine Frau, deren Gesicht durch die nach oben stolpernden Besucher den Blicken entzogen war. Sie trug ein weißes Kleid – mit blassrosa Schleifen.

       Tagebucheintrag des Ersten Kammerherrn Hans von Essen

      Carlotta de Geer – sie ist derzeitig das Einzige, worauf sich trotz des Vorfalls in der Oper alle meine Gedanken richten. Sollte sich der König auch mit mir einen Spaß erlaubt haben? Was meinte er, wenn er von der Eroberung einer Festung sprach? Doch die Hoffnung, selbst die vergebliche Hoffnung auf diese wundervolle Frau erfüllt mich mit neuer Kraft.

      Aber der Reihe nach: Mit den Pastillen des Physicus Salomon war ich nach dem Soupé im Königsschloss rasch genesen. Gestern habe ich einen Wink erhalten, die Insubordination der Pagen in den Jakobinerfarben kategorisch zu ahnden. Die Empfehlung wurde mir von meinem Sekretär, einem Cousin eines Vertrauten von Sivers, übermittelt. Nun: Alle zeigten sich reumütig, der dritte hat sich krankgemeldet. Sivers kennt die Namen. Danach die Post erledigt. Nach dem Mittagstisch versuchte ich einen Schlitten zu mieten und zu Erik nach Lurbacka hinauszufahren, um meine mögliche Verbindung mit Carlotta zu besprechen. Der Wagnermeister hinter dem Stortorget hatte nur mehr zwei lahme Gäule frei, was mich sehr verdross. Außerdem jammerte er etwas über seinen zuverlässigsten Kutscher, der verschwunden sei. Er schien ehrlich besorgt, weil die Straßen immer unsicherer würden. Wie soll ich ohne Eriks Hilfe und seinen Überblick über unser gemeinsames Erbe die Heirat finanzieren? Der Nachmittag verlief also ergebnislos.

      Um sieben Uhr begannen die Vorbereitungen für die Fahrt des Hofes vom Schloss zur Oper. Auf Lilljehorns Leibgarde ist Verlass auch dann, wenn der Oberstleutnant selbst nicht das Kommando führt. Die Straßen waren mit Fackeln bestens ausgeleuchtet, in der Oper sicherten Leibtrabanten diesmal auch die Zugänge zur Bühne, was in letzter Zeit sträflich unterlassen wurde. Während der kurzen Fahrt entspann sich kein Gespräch. Die Königin war unpässlich, der Kronprinz nestelte unentwegt an seinen blauseidenen Beinkleidern, die Rundgren wohl etwas zu eng angemessen hatte. Aber der Prinz schießt förmlich in die Höhe. Der König fühlte sich offenkundig nicht wohl, seine Augen glänzten fiebrig. Sein üblicher Zustand vor jeder Aufführung. Im Foyer nahm Gustav die Honeurs der Stockholmer Bürger entgegen, dann drängte er heftig in die große Loge. Mit dem ersten Takt würde sich seine Spannung lösen, und er würde wirklich zu leben beginnen. So war es auch diesmal. Der Vorhang hob sich, und ein begeistertes Raunen vom Parkett bis zur Galerie erfüllte die Ränge. Das Haus zeigte sich von den Kulissen und den Kostümen tief beeindruckt. Gustav war selig – seine Gewänder, die er selbst in nächtelanger Arbeit entworfen hatte, versetzten uns in die Heldenzeit Schwedens. Das Bühnenbild des ersten Aktes war in den düstersten Farben gehalten. In den Verließen unterhalb des Königlichen Schlosses schmachteten die edelsten Frauen Schwedens mit ihren Kindern, gefangen vom blutrünstigen Dänenkönig Christian. Eine einzige Lampe erhellte die Szenerie aus schaurigen, gotischen Gewölben. Ich lasse hier eine Seite frei, um eine Skizze der Bühne einzufügen. Kellgren hat einen guten Strich. Vielleicht steigt er vom hohen Podest des Genies herab und gibt mir eine Zeichnung.

      In der Pause nach dem zweiten Akt trat Gustav für alle sichtbar nach vor, um die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen. Die Vivats klangen echt und ehrlich, von den Dunkelmännern, vor denen Sivers immer warnt, keine Spur. Im Salon des Königs hatte ich einige Erfrischungen vorbereiten lassen. Zugegen waren Gustav, der Kronprinz, Graf Armfelt und der Österreichische Gesandte. Mit ihm unterhielt sich der König über die Lage in Frankreich, der Gesandte bat um eine Privataudienz in allernächster Zeit. Sein Herr, der Kaiser – so viel konnte ich verstehen –, teile die Einschätzung seiner Majestät. Daraufhin richtete Gustav das Wort an mich: »Mein lieber Essen, Sie werden es noch erleben, große Dinge kündigen sich hier an.« Er war offensichtlich heiter gestimmt: »Außerdem, wie befindet sich Madame de Geer?« Ich konnte nichts anderes antworten, als dass ich über ihren Verbleib nicht unterrichtet war. Äußerst unangenehm – besonders vor dem Gesandten. Gleich danach begab sich die Gesellschaft über die Geheimstiege wieder in die Königsloge hinunter. Vielleicht weil mich die Erwähnung Carlottas verwirrt hatte, vielleicht, weil ich noch Anweisungen an die Diener gab für den Fall, dass der König in seinen Gemächern in der Oper übernachten wollte – als wir in der Loge angekommen waren, fehlte der König.

      Armfelt redete, wild gestikulierend, auf einen Hauptmann der Leibgarde ein, doch vergeblich. Der Vorhang gab die Bühne frei, der dritte Akt begann, und nirgendwo der König. Um keinen Aufruhr zu erregen, nahm ich den ersten Platz in der Loge ein – so könnte im Dunkel des Zuschauerraums das Fehlen Gustavs vielleicht unbemerkt bleiben. Die Kulissen von Desprez überboten alles, was man hierzulande je gesehen hatte. Links das Königsschloss Tre Kronor mit dem mächtigen Rundturm in der Mitte, davor die stark bewehrte Schlossmauer, durchbrochen nur von dem mächtigen Tor. Am Vorplatz entbrannte die Schlacht zwischen Dänen und Schweden, überall Fahnen und Wimpel und Pulverdampf. Im Donner der Theatermaschinen wurden einige Damen des Publikums ohnmächtig. Nach der letzten Arie Stenborgs als Gustav Wasa setzen jetzt die Schweden zum Angriff an. Das Publikum tobt und schüttelt die Fäuste gegen die dänischen Söldner, jetzt verstand ich, warum kaum Statisten für das Dänenheer zu finden waren. Schon haben die Schweden den Vorplatz unter ihre Kontrolle gebracht. Neben Gustav Wasa stürmt ein Ritter in glänzendem Harnisch gegen die Dänen. Die Verteidiger weichen, triumphierend reißt er sich den Helm vom Kopf. Ein einziges, langgezogenes Hurra! lässt die Oper erzittern. Es ist der König selbst, Gustav, der dem König auf der Bühne zum Sieg verholfen hat.

      An eine Fortsetzung der Aufführung ist nicht zu denken. Der Kapellmeister klopft ab. Niemanden, vom Lakaien bis zum Edelmann, hält es auf seinem Platz. Man stimmt ein in den Hymnus aller schwedischen Patrioten »Ädla skuggor, vördade fäder!« Der König tritt bis an den Orchestergraben vor, als Einziger singt er nicht, weiß er doch, dass es vermessen wäre, an einer Huldigung, die nur ihm gilt, selbst teilzuhaben. Die Menschen fallen einander um den Hals, ach, wäre nur Carlotta dabei gewesen!

      5

      Die Magd hatte sich mit dem Auftragen des Nachtmals länger als üblich Zeit gelassen. Warum machte sie so ein Getue um die fade Grütze und den zu weichen, aber versalzenen Hering? Endlich drückte sich niemand mehr in der Dienstbotenküche herum. Auch der Korridor zum Innenhof mit den fünf stattlichen Remisen für die besten Mietkutschen und Schlitten Stockholms war leer. Von dort konnte er unbemerkt durch den Hintereingang auf die Straße schlüpfen. Die quietschenden Türangeln hatte er am Vortag sorgsam mit Wagenschmiere eingefettet.

      Eisiger Windhauch trieb ihm Wasser in die Augen. Er schlug den Rockkragen hoch und knotete das Halstuch fester. Hätte sich nicht der Turm der Finska Kyrkan vom Nachthimmel abgehoben, wäre er vom Weg zur Jakobikirche abgekommen. So tastet er sich behutsam von einem Lichtkegel zum nächsten, den die wenigen und traurigen Fackeln auf die gepflasterte Straße warfen. In seiner Heimat in Finnland