Lilljehorn und Carlotta kamen gegenüber zu stehen, sie bildeten ein Paar. Mit seiner Fiedel gab Monvel den Takt vor, die Musik setzte triumphierend ein. Sorglos und unbefangen schmiegte sich Carlotta an den Oberstleutnant, ihr ganzer Körper antwortete den Schwingungen der Musik. Als sie die Armtour begannen, ihr rechtes und sein rechtes Armgelenk einander berührten, war ihm, als streifte ihn der unsagbar leichte Flügelschlag eines Vogels.
Zur linken Rondé durfte er ihre beiden Hände fassen, nach der Drehung sah er ihr unvermittelt in die Augen. Für die Große Acht löste er sich etwas zu spät von ihr. Jetzt übernahm Carlotta die Führung und schob ihn auf den richtigen Platz. Ihr Lachen tat ihm weh und erfüllte ihn zugleich mit Seligkeit. Der erste Tanz war noch nicht zu Ende, als Ribbing schon um den zweiten bat, den ihm Carlotta sogleich gewährte. Lilljehorn zog sich linkisch zurück und hasste sich dafür, nicht gleich um den nächsten gebeten zu haben, der wieder an Ribbing ging.
Lilljehorn versuchte sich ganz auf die Kommandos des Tanzmeisters zu konzentrieren, auch wenn er bei jedem Taktwechsel, bei jeder neuen Figur nach der schlanken Gestalt Carlottas spähte. Die einen Tänzer balancierten auf der rechten Fußspitze und umfassten die Taillen ihrer Frauen, während sie die Linke graziös über ihren Kopf hoben. Die anderen machten die Rondé. Füße und Beine bewegten sich wie von selbst, sie folgten Monvel gleichmäßig und fehlerlos. Ihn durchdrangen die Gesetze seiner Musik, ließen seine Beine ohne sein Zutun auf dem kleinen Raum der Bretterbühne herumwirbeln, die Arme, die Füße wirbelten im Takt, der Kopf drehte sich, wie von einem mechanischen Uhrwerk gelenkt, in regelmäßigen Intervallen nach links und rechts. Wenn er geradeaus blickte, klappte sein Unterkiefer nach unten, so als ob dem entblößten Weiß seiner Zähne die Aufgabe zukäme, ein Lächeln darzustellen.
Der Tanzmeister war, je länger der Tanz dauerte, durch unsichtbare Fäden mit jedem einzelnen der Männer und Frauen im Saal verbunden. Einer geheimen Kraft untertan, hatten sie die Macht über sich verloren, wiegten sich, verbeugten sich und stürmten durch die Reihen, wie Monvel es ihnen vorspielte. Aus den vielen war ein einziger Organismus geworden. Erst als der Schlussakkord in aufbrausendem Crescendo verklungen war, endete die Magie. Kraftlos in sich zusammengesunken, stand Monvel auf seinen Brettern, ein überflüssiges Requisit der zu Bewusstsein gekommenen Menge.
Carlotta trat mit einem Champagnerglas zu Lilljehorn: »Ach, wissen Sie, lieber Freund, Paare, die zusammengehören, sollten doch einen Deutschen Tanz wagen. Dabei können sie eng beieinanderbleiben. Ich fürchte nur, Ribbing versteht sich nicht darauf. Wenn Sie mein sein wollen für die nächste Runde, bitten Sie doch Monvel, er solle deutsch tanzen lassen!«
Lilljehorn trat an Monvel, doch gerade jetzt begannen die Musiker wieder ihre Instrumente zu stimmen, sodass er seine Bitte fast schreiend vorbringen musste. Ob das Gezischel der Umstehenden ihm galt? Doch der Franzose neigte verständnisvoll sein Haupt. Kaum hatte er Carlotta im Arm, ging die Musik los. Eng ineinander verschlungen, tobten sie durch den Saal. Die anderen Paare drückten sich an die Wand. Carlotta und Lilljehorn drehten sich in kreisendem Wirbel. Die Gesichter der Umstehenden zerbarsten zu randlosen Flecken aus roten Lippen und erhitzten Wangen. Schon flogen sie, getragen vom Takt der Musik, durch ihre Welt, den hell erleuchteten Streifen in der Saalmitte, schwebten in Sphären aus Licht und Harmonie, als Lilljehorn seine Tänzerin mit beiden Händen in die Höhe hob. Zwei Seelen, die der Welt verloren waren. Die Musik erstarb, schwer atmend standen die beiden in der Mitte. Offene Augen und Münder wogten auf und nieder. Lilljehorn suchte Halt und fand ihn an der Schulter Carlottas. Endlich zog die starke Hand Ribbings die beiden zu einer Chaiselongue im Hintergrund des Saals. Die Gespräche der anderen setzten wieder ein, zuerst verlegen und vereinzelt, dann sich zu beruhigtem Gemurmel steigernd. »Meine Verehrteste«, sagte Ribbing, »Sie spielen die Bauerntänzerin ganz vortrefflich, mein Kompliment.«
Die Klänge des nächsten Tanzes übertönten die Worte, die Lilljehorn vielleicht schon auf den Lippen lagen. Da erblickte er auf dem Speisetischchen eine Schale mit Orangen, von denen er eine Carlotta gab: »Ich habe gelesen, dass diese Früchte nach dem Tanz hervorragende Wirkung tun.«
»Lieber Oberstleutnant, ich weiß, worauf Sie anspielen, doch der Tanz ist nun vorbei. Graf Ribbings Champagnerwein behagt mir besser.«
Die nächsten Tänze nahm er kaum wahr. Monvel hatte als unumschränkter König des Festes seine Herrschaft wieder angetreten. Als sich Lilljehorn gefasst hatte, dirigierte Monvel sein Volk zu einem wohldurchdachten Menuett in abgezirkelten Schrittfolgen. In der Saalmitte Ribbing und Carlotta, ihre Verbeugungen, ihre Knickse, ihre Schrittwechsel glichen den konvulsivischen Zuckungen dressierter Marionetten. Er zwang sich zu einem Gang rund um den Saal, wo sich die vorzeitig Erschöpften Wein oder Kaffee einschenken ließen und sich lächelnd abwandten, wenn er vorbeikam. Nichts hielt ihn mehr hier. Der Tanzmeister kündigte den letzten Tanz an und forderte zur Aufstellung en Anglaise auf. Waren das Gesichter hinter den Eisblumen der Fensterscheiben? Lilljehorn suchte die Tür, als diese aufflog und der Hauch der Nachtluft einige Kerzen an den Kandelabern auslöschte. Zuerst setzten die Bläser aus, dann die Kontrabässe, die Fiedel Monvels behauptete sich bis zuletzt gegen die Stille, gab nur zögerlich auf.
Vor ihnen stand eine krummbeinige Figur, schwarze Haarsträhnen hingen dem Mann wirr ins Gesicht. Die rotgeränderten Augen des Betrunkenen suchten nach einem fixen Punkt und blickten höhnisch in die Runde. In sich überschlagenden Falsett-Tönen kreischte er: »Citoyens – das Gehopse hat ein Ende! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn meine Freunde nun wirklich tanzen. Meine Freunde, tretet ein! Musiker, spielt auf!«
Hinter ihm torkelten zerlumpte Gestalten in den Saal, Bauern in zusammengeflickten Mänteln und schweren Schuhen, Pelzmützen auf dem Kopf, Dienstmägde mit von Aquavit und Kälte geröteten Wangen. Die Hitze des Ballsaales nahm ihnen den Atem. Der Krummbeinige schrie: »Courage, mes amies!« und fasste die am nächsten stehende Frau, eine füllige Mitvierzigerin, um die Hüfte und vollführte einige Bocksprünge quer durch den Raum bis hin zum Podium des Monvel. »Deutsche Walzer!«, grölte er. Ein Geruch von Stall, Kälte und Feindseligkeit mischte sich mit den Parfüms der Gesellschaft, hier und dort gellte der spitze Schrei von Frauen, die man zum Tanzen zwang. Zwischen den in starrem Entsetzen auf ihren Plätzen verharrenden Paaren wirbelten die Mutigsten der Eindringlinge, stampften mit ihren Füßen den Boden. Lilljehorn suchte Carlotta, doch ein baumlanger Kerl baute sich vor ihm auf und versperrte ihm die Sicht auf die Geschehnisse. Seinen Degen hatte er im Zimmer gelassen, von Bedienten keine Spur.
Mit einer Behändigkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, sprang Monvel von seiner Bühne, stürmte durch das Chaos der sich irr drehenden Bauern zum Krummbeinigen. Die Tänzer blieben stehen, sofern sie es konnten, manche klammerten sich in ihrem Schwindel an ihre Tanzpartnerin. Der mächtige Lüster, dessen Kerzen allein noch brannten, warf einen harten Lichtkegel auf die nun einsetzende Szene. In majestätischer Gelassenheit schritt Monvel auf den Aufrührer zu, legte seine Fiedel, die er bis jetzt in der Linken gehalten hatte, sachte auf den Boden, um sich dann nach allen Seiten lächelnd der allgemeinen Aufmerksamkeit zu versichern. Dann, erst dann, als auch der letzte Tänzer zum Stehen gekommen war, als nur mehr der rasselnde Atem des Krummbeinigen zu hören war, verabreichte er der Kreatur vor ihm eine einzige, niederschmetternde