Unter Masken. Ludwig Fladerer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Fladerer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783904123600
Скачать книгу
Polizeiminister Sivers an Mamsell

      Hochverehrte Madame, ich darf Ihnen mit diesem Billett das von Exzellenz Armfelt bewilligte Honorar von 200 Reichstalern in barer Münze übermitteln. Um uns die Gunst des Grafen weiterhin zu sichern, bitte ich Sie um rascheste Hilfe: Wir hatten in der letzten Nacht zwei Mordfälle, die mir nicht zu den üblichen Messerstechereien unter Saufkumpanen zu passen scheinen. Anbei sende ich Ihnen eine Abschrift des Rapports von Polizeihauptmann Lundquist. Besonders der Erschlagene am Friedhof bereitet mir Sorgen. Sie wissen so gut wie ich, dass sich dort oft Herrschaften der feinen Gesellschaft einfinden, um im gotischen Ambiente der Grabmäler aus dem Ossian zu zitieren. Noch ist die Exzellenz voller Optimismus. Ich kann ihn hinhalten. Der Eilbote ist verlässlich, bitte geben Sie ihm Ihre Antwort brieflich mit. Kodierung ist nicht erforderlich, die Zeit drängt. Ich vertraue Ihnen.

       Mamsell per Eilboten an Polizeiminister Sivers

      Herr Minister, ich fasse mich kurz. Die Situation ist äußerst besorgniserregend. Beim Erschlagenen am Friedhof handelt es sich um einen meiner Agenten, den ich als Knecht beim Wagnermeister Engzell am Stortorget untergebracht habe. Weil er seine Fuhrwerke vor allem an die hochgestellten Herren vermietet, konnte ich so deren Bewegungen und Zusammenkünfte verfolgen. Am Tage seiner Ermordung sollte sich der Agent mit meiner Zofe treffen, ich selbst war zu einer Soiree des Herzogs Carl gebeten. Da sich die beiden nicht kannten, war als Erkennungszeichen ein halbierter Schilling vereinbart worden. Schlag neun Uhr abends sollte er meiner Bediensteten die Informationen übergeben. Der Agent erschien auch – um dann vor den Augen meiner Zofe erschlagen zu werden. Erwarten wir von ihr keine verlässlichen Informationen! Halb verrückt vor Angst lief sie durch die Stadt. Erst gegen Mitternacht ist sie heimgekommen.

      Uns bleibt nur eine undeutliche Spur – der Unteroffizier. Auch wenn ich seinen erschlagenen Kameraden nicht auf meiner Liste der Verdächtigen führe, machen mich die zehn Reichstaler doch stutzig. Wie kommt ein Soldat zu einem Monatssold? Vielleicht gelingt es uns, die getrennten Fäden zu einem Bild zu verknüpfen.

      Ich schlage Ihnen somit vor: In einer Woche veranstalte ich die nächste Soiree. Verschaffen Sie dem Unteroffizier eine Einladung – er wird sie nicht abschlagen. Alle Welt möchte ja mit den Mächten der Unterwelt einen Blick in die Zukunft werfen. Außerdem werden höchste Persönlichkeiten anwesend sein – das sollten Sie ruhig durchblicken lassen. Nehmen Sie die Sache ernst, mich plagen böse Visionen!

       Weisung des Polizeiministers ­Sivers an ­Polizeihauptmann Lundquist

      Sie haben bis auf Widerruf strengstes Stillschweigen über die Mordfälle zu wahren. Der Artillerieunteroffizier ist als Angehöriger der siegreichen königlichen Armee unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Landstreicher Peterson kommt als einzig Verdächtiger in strenge Einzelhaft. Weitere Verhöre dieser Person erfolgen erst auf meine persönliche Anordnung hin. Dem Post-Tidningar soll eine Notiz über die Verhaftung Petersons übermittelt werden. Es wäre schön, könnte die Nachricht schon in der morgigen Ausgabe erscheinen.

      Aus verlässlicher Quelle habe ich Nachrichten, dass sich in einer Schauspielertruppe auf dem Weg nach Göteborg verdächtige Elemente mit jakobinischer Gesinnung befinden. Ich erwarte Nachrichten über die Reisestationen der Kompagnie. Sie werden die Polizeidiener anweisen, die Ausreise zu beschleunigen und nur im äußersten Notfall Verhaftungen vorzunehmen. Chef der Kompagnie ist Monvel, der Lieblingsschauspieler Seiner Majestät, an dessen Loyalität kein Zweifel besteht. Bringen Sie etwas über eine Tanzveranstaltung im Solnaer Holz in Erfahrung, bei der es einen Affront gegen Damen und Herren der Gesellschaft gegeben haben soll.

      6

      Auf dem Flechtzaun vor dem Landhaus plusterte eine Krähe ihre Federn auf, hüpfte an das Ende des Gatters und erhob sich mit müdem Gekrächze in den Morgenhimmel. Sie vertraute sich dem Nordwind an, der sie in Richtung Stockholm davontrug. Der Schneefall hatte aufgehört, unter einem klaren Himmel schleuderte die aufgehende Sonne ihre purpurnen Lichtpfeile in den Solnaer Forst. Lilljehorn lehnte am Zaun. Hinter ihm dampften die Rösser aus schwarzen Nüstern. Knechte zwangen sie ins Geschirr. Auf den Wipfeln der Baumriesen vor ihm sammelten flaumige Matten aus Schnee das Glutfeuer des ersten Lichts und warfen es auf rissige Stämme und den schweigenden Waldgrund, unter dem die Fährten des Wildes und die Wege der wenigen Menschen nur zu erahnen waren.

      Klarheit und Frische durchdrangen den Oberstleutnant Lilljehorn. Carlotta hatte ihr Spiel mit ihm getrieben. Ribbings Arm um ihre Taille, die schroffe Zurückweisung seiner Orange, das Stampfen ihrer Füße auf den Holzbrettern, als sie mit ihm durch die Reihen tanzte. Qual und Beklemmung für seinen seichten Schlaf. Wie ihn ihr süßes Lächeln verfolgte. Schloss er die Augen, verschwand der Wald, verstummten die Rufe der Rossknechte. Nur ihre grünen Augen ruhten auf ihm, rätselhaft und grausam.

      Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, den leichten Schlag eines Kameraden. »Mon cher Colonel, sind Sie nicht wohl? Natürlich sind Sie krank. Sie versinken im Leiden.« Vor ihm stand Monvel, kleiner als am Abend auf der Bühne, ohne Rouge auf den Wangen, ernster und gealtert. »Wissen Sie, die Liebe hat schon Städte zerstört und glückliche Könige. Denken Sie an Troja, an Lucretia – formidable Stoffe übrigens. Gestern beim Tanz haben Sie sich an die Unendlichkeit verloren, ich habe es wohl gesehen, heute verfinstert Verdruss Ihre Stirn – kann man das auf Schwedisch so sagen?«

      »Herr Monvel, ich bitte Sie …!«

      »Natürlich, pardonnez-moi ma témérité. Würden Sie mir wohl die Ehre erweisen, an meinem Frühstückstisch Platz zu nehmen?«

      Monvel schob und zog Lilljehorn in den Gasthof, der kleine Schauspieler den hünenhaften Leibgardisten, und der wappnete sich gegen allzu viel Vertraulichkeit. Der Theaterprinzipal bediente selbst mit der Leichtigkeit eines Höflings aus Versailles. Der Speisesaal war noch leer, vom Obergeschoss hörte man die Dienstboten mit ihren Waschschüsseln und vorgewärmten Handtüchern. »Keine Sorge, mon Colonel, Madame de Geer wird für ihre Toilette noch recht viel Zeit brauchen. Sie sind Soldat, erlauben Sie mir also ein offenes Wort, auch wenn Sie mich dafür hassen mögen. Madame de Geer verdient Sie nicht. Bitte springen Sie nicht gleich auf! Jetzt möchten Sie tot sein, empfindungslos im hintersten Winkel eines Friedhofs begraben liegen. Aber diese Tragödien sollen sich nur auf der Bühne oder in Erzählungen deutscher Poeten ereignen. Halten wir das kurze Leben frei davon!«

      Lilljehorn bemühte sich um Haltung. Konnte man das fassen? Lebensmaximen eines Komödianten? Aber die Bitterkeit in der Stimme des Fremden hielt ihn am Tisch fest. »Herr Monvel, die Situation, in der ich mich befinde, denke ich, ist nur mir allein offenbar. Was den Charakter von Madame de Geer anbelangt …«

      »Über alle Zweifel erhaben, wollten Sie sagen? Wechseln wir das Thema. Wissen Sie, warum meine Kompagnie und ich Schweden verlassen? Das hat mit Ihrem König, Madame de Geer und auch mit Ihnen selbst zu tun, ohne dass es Ihnen bewusst ist. Ja, Ihr geliebter Landesherr erpresst von seinen Untertanen den letzten Taler, um Kriege zu führen und um zu spielen. Ein schwedisches Nationaltheater, so rein und vollkommen, das sich mit unserem, verzeihen Sie die kleine, wie sagt man, Schmeichelei, messen kann. Ein herrlicher, erhabener Plan, der mich von Paris hierhergelockt hat. Ach, Paris, wenn wir von Paris sprechen, dann sprechen wir von einem Traum, nicht von einer Stadt. Wenn Sie es nur jemals im Frühling erlebt hätten. Das Geflüster der Paare abends in den Lauben, die Jasmindüfte, die wir so liebten, weil wir von ihrer Vergänglichkeit wussten, das flirrende Licht aus den großen Palais. Überall eine Ahnung von Spiel und Liebe. Wir waren große Kinder damals, und unsere Perücken nahmen uns das Alter, zeitlos verlebten wir unsere Tage. Auf all das habe ich verzichtet, um in ein Land zu kommen, in dem man gerade die ersten Opern zusammenflickte, vor dessen Hauptstadt noch Wölfe streunten. Einerlei – ich habe es nicht bereut, solang der Esprit Ihres Königs dieses Eiland der Finsternis erhellt hat. Seine Stücke waren geistreich, mit Verstand ordnete er den Stoff des Lebens. Die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung, wie sie unser großer ­Corneille forderte, gaben dem Leben Ordnung und machten aus Ordnung Kunst. Dass da jemand war, der das Chaos des Lebens durch die kristallene Schönheit der Form sah, ließ mich die elende Bühnenmaschinerie, die stotternden Schauspieler und die Misstöne eines Orchesters vergessen, dessen beste