Auf einen Wink Ribbings versuchte der Kutscher mit einem Fichtenast als Hebel den Schlitten so weit zu heben, dass die Pferde ihn ein Stück zur Wegmitte ziehen konnten. Doch beim ersten Versuch brach der Ast an der Stelle entzwei, wo Norberg ihn am Schlitten angesetzt hatte. Als Ribbing dem Kutscher eine Ohrfeige geben wollte, ertönte der erste Pfiff. Ein kurzes, sich einmal senkendes, dann wieder steigendes Signal. Was der Kutscher nun tat, hätte niemand erwartet, am allerwenigsten die Gräfin, deren Kopfschmuck am Fenster sichtbar wurde. Bedächtig lehnte Norberg sich mit dem Rücken gegen den Schlitten, vergrub beide Hände im Schnee, fasste die eingesunkene Kufe und hob das Fahrzeug langsam in die Waagrechte. Für einen Augenblick verschwand die Perücke der Gräfin vom Fenster. Zweiter Pfiff. Lilljehorn ließ geistesgegenwärtig die Peitsche über den Pferden knallen. Sie fassten Fuß und zogen den Schlitten ruckartig in die Spur. Die Tiere dampfen, der Kutscher sitzt schon auf dem Bock. Ribbing und sein Gast schwingen sich auf das Trittbrett des jäh anfahrenden Schlittens. Da lösen sich aus dem nebeligen Umkreis der Baumriesen konturlose Gestalten. Sie johlen, pfeifen. Es fliegen Äste und Knüppel, die aber die Kutsche verfehlen. Ribbing feuert seine Pistolen ab. Die Pfiffe werden leiser.
Was Lilljehorn in Erinnerung blieb, waren weniger die unflätigen Beschimpfungen als der ohnmächtige Hass, der dem Schlitten und seinen Insassen noch anhaftete, als die Reisenden ihr Ziel, die Schenke »Zum Bacchusjünger«, schon sicher erreicht hatten.
Bericht des Polizeimeisters Sivers an Graf Armfelt
Exzellenz, meine Informanten berichten von Unruhen in der Provinz Östergötland. Bauern haben auf dem Fahrweg des Grafen Horn Seile gespannt, um seinen Schlitten aufzuhalten. Der Graf konnte sich mit gezogenem Säbel gerade noch freie Bahn verschaffen. Die Informanten erklären, der Graf habe die Arbeitszeit in seinen Berggruben auf zwölf Stunden erhöht und bezahle mit Papiergeld.
Die Agenten am Hof haben in Erfahrung gebracht, dass einige Pagen unter ihrer Tracht Seidentücher in den Farben der französischen Sansculotten trugen. Herr von Essen hat sie zurechtgewiesen.
In Göteborg versuchte ein französisches Handelsschiff unter der Flagge der Trikolore die Ladung zu löschen. Entsprechend dem königlichen Erlass blockierte der Hafenkommandant die Einfahrt, woraufhin er von Leutnant Falckenberg vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt wurde.
Die Agentin Mamsell leistet hervorragende Dienste. Ich schlage untertänigst die Erhöhung ihres Honorars auf 200 Reichstaler vor.
Armfelt an Sivers
Der Rädelsführer der Bauern kommt am Sonntag nach dem Kirchgang auf den Spanischen Bock. Die örtlichen Beamten haben wegzuschauen, wenn die Bergarbeiter ihren Aquavit brennen. Papiergeld ist legales Zahlungsmittel. Ich will die Namen der Pagen haben, und zwar bis morgen. Herr von Essen ist zu nachsichtig! Der Leutnant wird nach Gotland versetzt, dort kann er mit Anckarström Füchse zählen. Die Erhöhung des Honorars für Mamsell ist genehmigt, auch die Auszahlung in barer Münze. Aber spannen Sie mich nicht auf die Folter, wer zum Kuckuck steckt hinter Ihrer Mamsell?
3
Der Wirt geleitete Lilljehorn mit seinen beiden Weggefährten am langen Tanzsaal vorbei ins Speisezimmer. Dort waren im dichten Tabaksqualm die Anwesenden mehr zu erahnen, als zu erkennen. Es musste sich aber um eine gemischte Gesellschaft handeln, was Lilljehorn verwunderte. Carlotta, die ihre Toilette in Ordnung bringen wollte, erhielt ein Gemach über einer rußschwarzen Holztreppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte. Den Menüvorschlag des Wirtes hatte sie entrüstet abgelehnt und sich einsilbig zurückgezogen. In der fahlen Mittagssonne tanzte der Staub und hob sich zur schweren Holzdecke. Ein zu hoch gehängtes Gemälde wurde nur von Lilljehorn beachtet. Waren das Trauben, der nackte Wanst eines Bacchus oder ein im klebrigen Fettdunst der Speisen unkenntlich gewordenes Interieur?
Der Hasenbraten schmeckte den beiden Männern gut, vom Wein sagte der Wirt, mit der Zunge schnalzend, er käme aus Frankreich. Zwischen gebratenen Keulen, Rosmarinkartoffeln und gedünstetem Kraut verebbte das Gespräch und kam nach der ersten Karaffe Wein vollends zum Erliegen. Wie sehr wünschte sich Lilljehorn nun, sein Exemplar des Werther bei sich zu haben, denn vielleicht hätte er in einem stillen Winkel trotz der bleiernen Müdigkeit nach den Aufregungen der Schlittenfahrt eine Seite übertragen. Er war jetzt beim Abschnitt über die Terzerolen Alberts in Werthers Erzählung über den »regnichten« Nachmittag angelangt. Aber welches Wort könnte das altertümliche »regnicht« im Schwedischen wohl am besten wiedergeben? Warum hatte der Text zudem »Terzerolen« und nicht Pistolen? Albert erzählte in dem Kapitel von einem Bedienten, der ungeschickt mit geladenen Pistolen hantierte und seinem Mädchen den Ladestock durch den Daumen schoss. Der kluge Albert – nun lädt er seine Pistolen nie mehr. Musste Werther ob dieser Vernünftelei nicht rasend werden, sich die Mündung über das Auge halten und Selbstmord spielen? Wie würde wohl Ribbing reagieren, wenn er dessen abgeschossene Pistolen an sich nähme, die Holztreppe hinaufschliche, um vor Carlotta den eigenen Tod zu markieren? Die selbstsichere, sarkastische Carlotta.
Ribbing war aus dem Speisezimmer verschwunden, er hatte ihn nicht weggehen gehört. Anstelle des Tabletts mit dem Braten lag ein mit silbernen Buckeln verziertes Halfter auf dem Tisch, darin steckte eine Pistole. Lilljehorn barg sie unter seiner Weste. Aufrecht im Zimmer stehend, hatte er nun an der gegenüberliegenden Wand das Gemälde vor sich. Dort war jetzt deutlich ein Jüngling zu erkennen, neben ihm ein umgestürzter Sessel, die Einrichtung nach altdeutscher Art. Er öffnete die Tür zum Tanzsaal. Der Tabakrauch hatte sich verzogen, Gäste in schwarzer Tracht saßen starr auf ihren Bänken, ohne von ihm die geringste Notiz zu nehmen. Unbemerkt verließ er den Saal und gelangte endlich zur Treppe. Als er seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, fühlte sie sich kalt wie Marmor an und knarrte nicht. Nun lichtete sich das Obergeschoss zu einem frühlingsblauen Himmel. Er atmete freiere Luft. Ein Lindenbaum reckte seine Äste Carlottas Gemach entgegen, vor dem kühles Wasser in einen steinernen Brunnen strömte. Er stieß die Tür auf, vor ihm stand Lottchen, weinend, mit einem Brief in der Hand. Er hielt sich lächelnd die Mündung der Pistole über das rechte Auge und drückte ab. Zu abertausend Farben explodierte in seinem Kopf das Feuer aus dem Lauf der Waffe.
Lilljehorn fühlte eine schwere Hand an seiner Schulter. Er starrte in die Weinkaraffe, deren Glas das schräg einfallende Abendlicht in den Farben des Regenbogens auf die blank polierte Tischfläche warf. Dann hörte er Ribbing: »Nun sind Sie ja endlich erwacht. Wollen sich Herr Oberstleutnant nach den Strapazen des Mittagsmahles vielleicht für die Battaglia am Tanzparkett bereitmachen? Der Wirt hat Ihnen ein Zimmer überlassen. Der Contredance soll um sieben beginnen.«
4
Das Blatt Papier schräg haltend, um zu sehen, wann die noch feuchte Tinte nicht mehr schillern und endgültig trocken sein würde, rief Lilljehorn einen Bedienten, der ihm die Garderobe für den Tanz bereitlegen sollte. Nach dem unruhigen Mittagsschlaf hatte er sich auf seinem Zimmer erfrischt und danach noch eine Seite aus dem Werther übersetzt. Jetzt fühlte er sich erholt und merkwürdig ruhig.
Ribbing erwartete ihn im Foyer vor dem Saal. Von drinnen waren die Musiker beim Stimmen ihrer Instrumente zu hören. Die zusammenhanglosen Tonleitern der Bläser vermischten sich mit den gedehnten Klängen der Streicher, allesamt übertönt von den Anweisungen eines mächtigen Basses. Der zarte Schritt einer Dame, Lilljehorn drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau, die nach Bürgerinnenart ihr blondes Haar nach hinten zusammengebunden hatte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid mit blassrosa Schleifen an Armen und Brust. Ein ironisches Funkeln in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie mit einem leichten Knicks, »wenn ich Ihren Vorstellungen von Lottchen nicht genau entspreche.«
Lilljehorn stammelte ein unbeholfenes Kompliment über die schöne Maskerade Carlottas und betrat an ihrer linken Seite den Saal. Einen halben Schritt dahinter folgte Ribbing.
Dort schenkten Bedienstete Wein, Bier und Kaffee aus. Es schien ihm, als ob er viele Gäste bereits aus Stockholm kannte, einige brachte er sogar mit dem Hof in Verbindung. Nun aber trugen alle Bürgergewand, die kühnsten traten sogar in schlichten Bauernkleidern