Unter Masken. Ludwig Fladerer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Fladerer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783904123600
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»Herr Oberst, gehorsamst, ein Mädchen, die Britta aus der Badstubenstraße, Sie wissen. Die Britta steht in Diensten des alten Horn, der mit seinem Gesinde vor ein paar Tagen auf seinen Landsitz abgereist ist.« Er schwieg. »Herr Oberst, das ist es doch nicht. Sie waren immer gut zu mir, aber ich gehe nun schon auf die fünfzig zu. Die Britta ist jünger und ein prächtiges Weib. Unsereiner kann sie nicht zur Frau nehmen, solange man dient. Da wird mir oft ganz eigen im Kopf, wie es in unserer Welt eingerichtet ist. Mit der Britta könnte ich zu Hause in Pommern einen Hof bewirtschaften. Die Erde ist dort schwarz und üppig. Und der gelbe Raps im Sommer, so was haben Sie noch nie gesehen, Herr Oberst.«

      Noch nie hatte Fritz so lange zu ihm gesprochen. »Nun ja, der Pastor«, fuhr er fort, »sagt, an Wunder braucht man nicht zu glauben, der Herr Jesus bringt uns das Sittengesetz bei, das nur einmal in den Schädel müsste, das genügt dann schon. Mir und Britta hat’s nicht genügt, seitdem geh ich nicht mehr zu den Lutheranern.« Dann: »Was nutzt das Sittengesetz uns Habenichtsen? Was ist das für eine Kirch ohne Wunder?«

      Am liebsten hätte Lilljehorn Fritz umarmt, aber er brachte nur heraus: »Fritz, guter Mann, kann jetzt abtreten. Ausgang bis morgen!«

      11

      Als Lilljehorn den Klara sjö über die Brücke nach Kungsholmen überquert hatte, ärgerte er sich über seinen Plan, Horn zu besuchen. Zugesagt hatte er ihm ja nie, und außerdem hatte Horn vergessen, ihm das Haus anzugeben. Also noch anderthalb Meilen die Kungshomsgatan auf und ab schlendern, um guten Willen zu zeigen und dann wieder zurück ins Quartier. Dienstmägde klapperten mit ihren Holzschuhen eilfertig über die Brücke und unterdrückten manchen Fluch, wenn sie sich an Lilljehorn stießen und schwarzes Bier aus ihren Krügen verschütteten. Er musste sich entscheiden: entweder das Mahl bei Horn oder sich mit den Happen zufriedengeben, die Fritz in der Offiziersmesse finden würde. Er blickte zurück zur Altstadt, der Insel zwischen den beiden Schleusen. Eine niedere Sonne warf ihr müdes Licht auf die Turmspitze der Riddarholmskirche. Schlaff hingen die Wimpel von der Burg auf Strömsborg. Während er missmutig nach einem Hinweis Ausschau hielt, bemerkte er, wenige Schritte von ihm entfernt, dort wo die Straße in einer sanften Kurve nach links bog, einen glänzend schwarz lackierten Schlitten. Vom Türschlag hob sich ein gelbes Wappen unter einer Grafenkrone ab. Im Wappenschild ein schwarzes Horn. Er war also angekommen.

      Im Bürgerhaus führte eine saubere, helle Stiege in zwei Obergeschosse. Im ersten Stock stand die Tür zu einer Wohnung offen. Zwei Maler strichen die Wände und achteten nicht auf ihn. Es roch scharf nach Lack und poliertem Holz. Horns Appartement musste eine Etage darüberliegen. Dort saß ein Diener ohne Livree auf dem Korridor und öffnete ihm grußlos. Die Räume waren hier höher, die Fenster schlanker. Der Lakai schloss hinter ihm ab. Aus dem Speisezimmer, wo Besteck und Gläser klirrten, stürzte der junge Graf auf ihn zu: »Eine freudige Überraschung, lieber Lilljehorn, Sie erweisen mir tatsächlich die Ehre!« Horn sprach sehr schnell, die Wörter überschlugen sich. »Gerade heute sehen Sie mich fast ohne Dienerschaft. Mein Vater braucht Leute auf seinem Landsitz, dem alten Kasten. Hier wohnt es sich doch bequemer. Ich muss leben wie ein Bürger, einerlei, wen stört das heutzutage noch.«

      Horn schob seinen Gast direkt ins Speisezimmer. Auf eng zusammengerückten Stühlen saßen die Gäste vor einem Tisch, der unter halbgeleerten Karaffen und regellos übereinandergeschobenen Tabletts verschwand. Möbel fehlten noch gänzlich. Vom verlorenen Sohn war da die Rede, der zurückgefunden habe. Reichlich übertrieben, fand Lilljehorn. Einige der Anwesenden kannte er vom Tanz im Solnaer Wirtshaus, aber niemand spielte darauf an. Carlotta war nicht hier. Die Diener servierten die Speisen sehr rasch, beiläufig verzehrte man sie, ohne Dankbarkeit oder Genuss. Lilljehorns Leute hätten sich um die marinierten Hähnchen oder den Malvasierwein geprügelt. Er war froh, dass die Gespräche an ihm vorbeiflossen. Wer sollte beim nächsten königlichen Karussell den Drachen spielen, den seine Majestät alias König Artus zu besiegen gedenke? Man erhitzte sich darüber, ob das Edelfräulein vor ihrer Rettung volle zwei Stunden untätig in den Kulissen ausharren müsse, denn so lange dauerte in der Inszenierung des Königs der Angriff des Artus. Dann ging es um Hästeskö, wie lange er hätte leiden müssen. »Schweigen Sie zu diesem Verbrechen!«, rief Horn. »Eine Schande, dieses Urteil in einer aufgeklärten Zeit.«

      Für einen Augenblick verstummte das Klirren und Klappern der Gläser. Ein Beamter mit gekräuseltem Haar versuchte zu widersprechen, doch kaute er noch an seinem Hähnchen: »Aber lieber Freund, verzeihen Sie, also ich kann nicht beistimmen. Denken Sie, wie viele von uns …« Er nahm einen Schluck Malvasier, um den letzten Bissen hinunterzuspülen. »Nun, wie viele von uns zur sagenumwobenen Mamsell Ulrica Arfvidsson gehen, um sich die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen zu lassen, jawohl, aus dem Pulver von Kaffee.«

      »Reichlich naiv, Herr Engeström«, meldete sich Lilljehorns Nachbarin zu Wort. »Sie vergessen die anderen Reize dieser – sagen wir – Dame.«

      Die Gesellschaft spaltete sich in hitzige Verteidiger und Ankläger der schwedischen Pythia. Es hielt niemand mehr auf den Stühlen. Sie sei die schönste Frau Stockholms, hieß es. – Nein, das könne man so nicht sagen, sie zeige sich bei ihren Sitzungen nur hinter einem Vorhang aus Gaze, wohl um ihre Pockennarbe zu verbergen. – Wie töricht so eine Verleumdung sei, würde denn ein Baron von Essen, der doch nur an den süßesten Früchten nasche, eine entstellte Vettel als Geliebte halten? – Da wäre doch jemand mit dem Leben am Hofe nicht vertraut: Essen habe Carlotta de Geer im Auge, nicht so eine. – Dann eben Liebchen Graf Armfelts oder gar des Herzogs Carl.

      Zum Kaffee konnte man sich endlich erheben. Horn zog den Oberstleutnant in den Musiksalon, wo sich noch niemand eingefunden hatte. »Wie schätze ich mich glücklich, Sie als Gast zu haben. Mit Ihrem Werther fühle ich mich verwandt, wissen Sie, ich dilettiere und versuche mich an Schiller. All die verlogenen Schwätzer ringsum, die elende Bühnensucht, dort dürfen sie sich noch produzieren wie die Affen.« Horn sprach abgehackt, schielte zur Türe, die Zeit bemessend, die noch für ein offenes Wort blieb. »Meine ganze Liebe gilt der Freiheit, aber politische Ansichten habe ich dabei gar nicht. In der Dichtung allein atmen wir frei. Sehen Sie in mir den Freund, auf den Sie immer zählen dürfen.«

      Die Lakaien öffneten die Flügeltüren des Salons, und Horn verstummte. Man stellte die Stühle in vier Reihen um das Pianoforte. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Maestro Mozart war dessen letzte Klaviersonate ausgewählt worden. Kanzleirat Engeström schob sich zwischen den Grafen und Lilljehorn: »Meine Herren, nun ganz unter uns, noch ein Nachtrag: die Beine der Mamsell, superb, famos, unübertrefflich, zwei schlanke Säulen aus Marmor. Ich denke, sie macht sie gerne breit für …«

      Horn wandte sich brüsk ab und kündigte als Solisten den Hofkompositeur Kraus persönlich an. Applaus, erwartungsvolle Blicke, und es trat ein – Ribbing. Gelächter. Ribbing tat überrascht, verbarg in gespielter Scham sein Gesicht und tänzelte im Ballettschritt die erste Reihe entlang. Abermals Gelächter. Als man sich beruhigt hatte, erklangen schon die ersten Akkorde der Sonate in D-Dur, ein Jagdmotiv. Aber der Kompositeur war um seinen Auftritt gebracht worden. Noch während des ersten Satzes, jedenfalls deutlich vor dem elegischen Parlando des zweiten, tauschten die Gäste bedeutungsvolle Blicke, versuchten, Ribbing nahe zu sein. Horn, in sich gekrümmt, bemühte sich, von der Musik ergriffen zu sein. Immer mehr starrten nun unverhohlen Lilljehorn an. Hatte Ribbing den Leuten was gesagt? Man steckte die Köpfe zusammen, tuschelte. Schließlich hatte Kraus ausgelitten. Ohne Verbeugung verließ er die Gesellschaft. Der Salon leerte sich. Horn war mit der Verabschiedung seiner Gäste beschäftigt, Lilljehorn blieb im Gedränge um die Garderobe zurück. Vor ihm in erheblichem Durcheinander die nach neuester Mode bespannten Stühle, manche umgestürzt – Zeugen einer plötzlichen Verstimmung.

      Auf ihnen lagen Zettel, kleiner als die Notenblätter, die man kaum beachtet hatte. Auf einem fand Lilljehorn einige rasch hingekritzelte Zeilen: »Wer dient der Heimat eher mit der Feder als mit dem Schwert? In wessen Wappen müsste man wohl ein Tintenfass aufnehmen? Wer tafelt zusammen mit einem Puppenspieler und einem Mohren?« Er drehte das Blatt um und fand die Antwort, sein eigenes Porträt. Als Marionette hielt er mit zittriger Hand ein aufgeschlagenes Buch. Schmerzlich dünne Fäden gingen durch Fingerspitzen, Ellbogen und Nasenspitze und liefen zusammen in der Hand des großen Puppenspielers, des Königs, der