Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt wurde, versteht man in der klassischen Konversationsanalyse Kontext nur dann als relevant, wenn im Gespräch selbst darauf referiert wird. Hingegen wird davon abgesehen, weitere gesprächsexterne Informationen in die Analyse einzubeziehen, da die Gefahr besteht, dass Kontextfaktoren deterministisch für das Gesprächsverhalten betrachtet werden und so Erwartungen bezüglich typischer institutioneller Rollen und Abläufe mitbewertet werden. Trotz diesen Grundsätzen werden in Studien zur institutionellen Kommunikation häufig ergänzend zu den reinen Gesprächsdaten noch ethnografische Daten erhoben, um durch diese zusätzlichen Kontextinformationen ein ganzheitlicheres Verständnis der Institution zu erzielen. Diese methodische Erweiterung findet in der neueren Forschung zu institutionellen Bereichen vermehrt Zuspruch und wird im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls als wichtig und nötig erachtet. Es muss allerdings jederzeit transparent sein, welchen Stellenwert den zusätzlich erhobenen Daten beigemessen wird. So zeigt beispielsweise Maynard (2003: 65), dass unter Umständen ethnografische Analysen die Hauptanalyse ergänzen können, jedoch keineswegs als gleichwertige Daten zu betrachten seien. Denn das Hauptinteresse der Analyse bleibt die Aktivität des Gesprächs selbst und nicht das Setting. Dabei sieht Maynard insbesondere bei den folgenden ethnografischen Daten das Potenzial für die ergänzende Analyse: (1) die Beschreibung von Setting und Teilnehmenden; (2) Erklärungen zu spezifischen Abläufen und Termini, die LeserInnen nicht unbedingt geläufig sind (beispielsweise fachspezifisches oder institutionelles Wissen); (3) Erklärungen von ‚seltsamen’ Mustern in den Daten anhand von Zusatzwissen aus Interviews oder teilnehmender Beobachtung (Maynard 2003: 73ff.). Maynard begründet diese Wahl ethnografischer Daten folgendermassen: Wenn wir die Möglichkeit haben, anhand von ethnografischen Informationen das Setting und die Teilnehmenden minimal und im Hintergrund zu beschreiben, erleichtert das den Forschenden die Entscheidungen zu treffen, welche Phänomene für das Setting relevant sind und im Vordergrund diskutiert werden sollen. Ohne diese Hilfe müssen bei der Analyse theoretisch vorerst alle Aktivitäten – alle ‚doings’ – als relevant erachtet werden (vgl. Maynard 2003: 74). Weiter sei ein gewisses Fachvokabular nötig, um die Prozesse im Gespräch verstehen und analysieren zu können. Auch gibt es spezifische Muster oder Abläufe, die nicht alleine aus der Sequenzanalyse erschliessbar sind, sondern erst anhand von Zusatzwissen zu Abläufen in diesem Setting verstanden werden können (vgl. Maynard 2003: 74f.). Wichtig sei hier aber zu erwähnen, dass es sich um ein nachträglich vertieftes Verstehen der Analyse handelt, wenn die Sequenzanalyse an ihre Grenzen kommt. Keinesfalls sollen jedoch ethnografische Daten als Basis der Analyse genommen werden (vgl. Maynard 2003: 75f.). Auch Arminen (2005: 1) betont, dass ethnografisches Wissen insbesondere in institutionellen Settings notwendig sei, um die Besonderheiten der Interaktionen zu verstehen und die Relevanz einer spezifischen kommunikativen Praxis richtig einordnen zu können. Insgesamt kann festgehalten werden, dass es sich bei der Gesprächsanalyse primär um eine detailgetreue Analyse der Gespräche handelt und der Fokus auf dem lokalen Kontext liegt. Da die vorliegende Arbeit einen spezifischen institutionellen Gesprächstyp untersucht, werden ethnografische Daten in ergänzender Art und Weise einfliessen, wo dies zu einem vertieften Verständnis führt. Zu diesem Zweck sowie um einen umfassenderen Eindruck der Gesprächssettings zu ermöglichen, werden im Rahmen der Methodenreflexion und Datenpräsentation ergänzende ethnografische Daten diskutiert (vgl. Kap. 3).
In konversationsanalytischen Studien zu institutionellen Kontexten liegt der Fokus also auf den Praktiken, die als konstitutiv für eine spezifische Institution oder einen spezifischen institutionellen Gesprächstyp gelten (vgl. Arminen 2005: XV; Boettcher et al. 2005: 5). In diesem Kontext ist auch die von Heritage (1984a: 290) geprägte Beschreibung von Institutionen als ‚talked into being’ zu verstehen, wozu er weiter ausführt:
It is thus through the specific, detailed and local design of turns and sequences that ‚institutional’ contexts are observably and reportably – i.e. accountably – brought into being.
Heritage betont dabei das grundlegende Erkenntnisinteresse der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, das darin liegt, die soziale Ordnung aufzudecken. Wenn Praktiken einer spezifischen Institution untersucht werden sollen, so muss beobachtet werden, wie die institutionellen AkteurInnen handeln und interagieren. In den institutionellen Interaktionen wird also aktiv mitgestaltet, was eine Institution ausmacht.
2.2 Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsbeteiligten
Gespräche sind per definitionem interaktiv gestaltet und bedingen daher, dass in irgendeinem Masse ein Austausch zwischen Gesprächsteilnehmenden zustande kommt. Es geht bei sprachlicher Kommunikation allerdings keineswegs um das reine Kodieren und Dekodieren von Informationen, sondern um die gemeinsame, interaktive Konstruktion von Sinn und Bedeutung. So besteht auch eine der Grundannahmen der Gesprächsanalyse darin, dass die Rollen von Sprechenden und Hörenden nicht klar getrennt werden können, sondern alle Gesprächsteilnehmenden jeweils durch ihre Anwesenheit das Gesagte mitprägen (vgl. z.B. Gülich & Mondada 2008: 43f.; Hitzler 2013: 111; Stukenbrock 2013: 240). Dieses grundlegende Prinzip der Interaktion wird mit dem Begriff recipient design1 beschrieben und geht auf Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) zurück. Seither taucht der Begriff häufig in der Forschungsliteratur auf, doch meist beschränkt sich die Diskussion auf eine Anerkennung der Wichtigkeit und der grundlegenden Bedeutung des Konzeptes für die Interaktion, jedoch ohne weitere Charakterisierung oder Problematisierung des Begriffs. So kritisieren Deppermann und Blühdorn (2013: 7), dass Recipient Design „zu den Konzepten der Konversationsanalyse [gehört], die häufig benutzt, doch nur selten zum ausdrücklichen Forschungsgegenstand geworden sind“ und Hitzler (2013: 112) spricht von einer vielfach „unreflektierte[n] Verwendung des Begriffs“. Offensichtlich wurde dieses Desideratum nun in der Forschungsgemeinschaft erkannt und so beschäftigen sich einige aktuelle, empirisch angelegte Studien mit Fragen zum Recipient Design (z.B. Deppermann & Blühdorn 2013; Hitzler 2013; Schmitt & Knöbl 2013; 2014).2
Neben dem konversationsanalytisch basierten Konzept des Recipient Designs wurden in anderen Disziplinen noch weitere verwandte Konzepte entwickelt, die sich ebenfalls mit der wechselseitigen Beeinflussung von Sprechenden und Hörenden beschäftigen und entsprechend die Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsteilnehmenden fokussieren. So hat etwa Grice (1975) mit seinen Theorien zu Maximen und Kooperationsprinzipien im Gespräch erste – wenn auch nicht empirisch basierte – Aspekte der interaktiven Kooperation formuliert. Brown und Levinson (1987) haben dann ausgehend von den Grice’schen Maximen und vom face-Begriff nach Goffman (1955; 1967; 1972) Theorien zur Höflichkeit entwickelt. Aus der Sozialpsychologie stammt die accommodation theory (z.B. Giles & Powesland 1975; Giles, Coupland & Coupland 1991), in der es v.a. um die sprachliche Anpassung an das Gegenüber geht und damit also um den Einfluss von Hörenden auf die Ausgestaltung der Äusserungen des/der Sprechenden (bezogen auf soziolinguistische Variablen wie Register, Stil, Varietät etc.). In eine ähnliche Richtung geht die Konzeption von audience design. Der Begriff geht auf Bell (1984; 2001) zurück, der allerdings seinerseits auf das konversationsanalytische Konzept des Recipient Designs verweist (vgl. Bell 2001: 141). Die ersten Untersuchungen von Bell (1984) sind v.a. quantitativ ausgerichtet und untersuchen die Variation von Stil in Relation zu unterschiedlichen Rezipierenden in medialen Kontexten. So wird dann auch typischerweise im Bereich der Massenmedien auf dieses Konzept verwiesen (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 12). Burger und Luginbühl (2014: 23ff.) sprechen in diesem Zusammenhang auch von unterschiedlichen Kommunikationskreisen, um die für Massenmedien typischen Formen der Doppel- und Mehrfachadressierung adäquat zu beschreiben.
Aus den Kognitionswissenschaften und der Psychologie werden zudem die Begriffe joint action und interactive alignment (z.B. Garrod & Pickering 2009) verwendet, wenn es in der