Beurteilungsgespräche in der Schule. Vera Mundwiler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Mundwiler
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000140
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Stellen kann eine aktuelle Sprecherin durch Fremdwahl einen nächsten Sprecher auswählen (current speaker selects next), welcher sodann das Recht und die Pflicht hat, das Rederecht zu übernehmen. Wählt die aktuelle Sprecherin keinen nächsten Sprecher aus, können Gesprächsbeteiligte durch Selbstwahl einen Sprecherwechsel herbeiführen, wobei in der Regel der bzw. die Schnellere (first starter) das Rederecht erlangt. Falls es zu keiner Selbstwahl kommt, kann die aktuelle Sprecherin das Rederecht behalten. Diese Regeln kommen bei jeder redeübergaberelevanten Stelle erneut zum Tragen.

      Die Funktionalität der Gesprächsorganisation zeigt sich insbesondere bei Paarsequenzen (adjacency pairs) wie Frage-Antwort, Gruss-Gegengruss etc., welche dadurch charakterisiert sind, dass der erste Teil der Paarsequenz (first pair part) einen zweiten Teil (second pair part) erwartbar macht und so konditionell relevant setzt (vgl. Schegloff 1968: 1083; Schegloff & Sacks 1973: 296). Diese Erwartbarkeit von Folgebeiträgen kann auch als Zugzwang beschrieben werden:

      Aus den konditionellen Relevanzen ergeben sich für die Beteiligten Zugzwänge, die im Verlauf des Gespräches eingesetzt, bedient, aber auch außer Kraft gesetzt werden können. (Hausendorf & Quasthoff 2005: 115)

      Es bedeutet also nicht, dass ein Zugzwang notwendigerweise eingehalten werden muss, jedoch zeigt sich beispielsweise beim Ausbleiben einer Antwort, dass ein Nichterfüllen der konditionellen Relevanz erklärt oder anderweitig (z.B. durch Nachfragen) weiter bearbeitet werden muss (vgl. Gülich & Mondada 2008: 51f.; Hausendorf & Quasthoff 2005: 115). Solche Abweichungen vom System zeigen wiederum, dass eine Regelhaftigkeit zugrunde liegt und Gesprächsbeteiligte sich an konditionellen Relevanzen orientieren.

      Ebenfalls im Zusammenhang mit Paarsequenzen wurde das Konzept der Präferenzstrukturen in der Interaktion herausgearbeitet: In der konversationsanalytischen Forschungstradition besagt die Präferiertheit, dass bei Paarsequenzen eine Reaktion rasch und direkt erfolgt und demnach unmarkiert ist. Hingegen zeigen sich bei der dispräferierten Form einer Antwort diverse Verzögerungselemente, Abschwächungen etc. (vgl. Gülich & Mondada 2008: 52f.; Pomerantz 1984; Pomerantz & Heritage 2013). Es handelt sich also nicht um psychologische Präferenzstrukturen, sondern darum, ob eine Reaktion rasch und knapp auf die Frage folgt, oder ob ein kommunikativer Mehraufwand betrieben wird (vgl. auch Kotthoff 2015a). Typischerweise werden Übereinstimmungen, Bestätigungen und beispielsweise die Annahme einer Einladung in präferierter Form realisiert, während Dissens, Widerlegungen und Ablehnungen in dispräferierter Form, d.h. nach Verzögerungen, mit Abschwächungen, zusätzlichen Erklärsequenzen o.ä. hervorgebracht werden (vgl. zusammenfassend Pomerantz & Heritage 2013).

      Nun kommt es in Gesprächen auch immer wieder zu Störungen, die u.a. mit der Organisation des Sprecherwechsels zu tun haben. Beispielsweise kann in der Mehrparteieninteraktion die Adressierung bei getätigter Fremdwahl unklar sein, sodass vor der eigentlichen Antwort ausgehandelt werden muss, wer gemeint ist. Andere Störquellen sind z.B. Artikulationsschwierigkeiten, akustische und inhaltliche Verständnisprobleme o.ä. und die setzen ähnliche Korrekturmechanismen in Gang. Man spricht bei solchen korrigierenden Handlungen von Reparaturen (repair), die einerseits selbst- oder fremdinitiiert und andererseits in Form von Selbst- oder Fremdreparatur bearbeitet werden können (vgl. Gülich & Mondada 2008: 59ff.; Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 723ff.; Schegloff, Jefferson & Sacks 1977; Selting 1987).

      2.1.3 Gesprächsanalyse und institutionelle Kontexte

      Die Kommunikation in Institutionen wie Schulen, Arztpraxen, Medienunternehmen, Gerichtshöfen etc. ist in der konversationsanalytischen Forschung dominant vertreten und wurde entsprechend in ausführlichen Darstellungen zum Thema gemacht (vgl. z.B. Arminen 2005; Boden & Zimmerman 1991; Drew & Heritage 1992b; Drew & Sorjonen 1997; Heritage 2004; Heritage & Clayman 2010; McHoul & Rapley 2001). Institutionen werden typischerweise als Orte des zweck- und zielorientierten Handelns beschrieben (vgl. z.B. Drew & Heritage 1992a: 22f.; Ehlich & Rehbein 1980: 338). Jedoch gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie institutionelle von alltäglicher Kommunikation abgegrenzt werden kann und inwiefern Asymmetrien typisch für institutionelle Interaktionen sind. Diese Aspekte werden im Folgenden beleuchtet. Zudem wird abschliessend gezeigt, wann der Einbezug von Kontextinformationen für die Analyse institutioneller Gespräche sinnvoll sein kann.

      Grundsätzlich schlagen Drew und Heritage (1992a: 19) eine komparativ angelegte Untersuchung von institutioneller und alltäglicher Kommunikation vor und gehen dabei davon aus, dass Alltagsgespräche sozusagen als Standard angenommen werden können, während Gespräche in Institutionen typischerweise Einschränkungen auf die Möglichkeiten der Ausgestaltung der Gespräche erfahren.1 Jedoch lässt sich eine häufig als ‚Dichotomie von Alltag und Institution’ bezeichnete Aufteilung nicht ohne Weiteres vollziehen, denn einerseits gibt es eine Vielzahl alltäglicher Institutionen (z.B. Familie, Schule) (vgl. Koerfer 2013: 23) und andererseits lassen sich typische institutionelle Praktiken auch in nichtinstitutionellen Kontexten beobachten (z.B. schulische Belehrungsmuster am Mittagstisch) (vgl. Birkner 2011: 2). Um der Auflösung dieser Dichotomie Nachdruck zu verleihen, veröffentlichten Birkner und Meer (2011) unter dem Titel Institutionalisierter Alltag einen Sammelband zur Thematik und Meer (2011: 35) zeigt durch ihr Verständnis von Alltag als „praktiken- und positionsspezifisch graduell unterschiedlich institutionalisiert“ ihre Ablehnung einer generalisierenden Sicht auf vermeintliche Oppositionen Alltag versus Institution.

      In Bezug auf schulische Beurteilungsgespräche haben wir es mit der Kommunikation zwischen den zwei alltäglichen Institutionen Schule und Familie zu tun. Als ‚alltäglich’ bezeichnet Koerfer (2013: 23) Institutionen dann, wenn sie für alle Zugehörigen einer Kulturgemeinschaft mindestens temporär zum Alltag gehören. Schulische Beurteilungsgespräche werden demnach als inter-institutionelle Kommunikation beschrieben und Studien konnten zeigen, wie sich die Vertretenden dieser alltäglichen Institutionen in ihren entsprechenden Rollen als Lehrpersonen bzw. als Eltern begegnen (vgl. z.B. Baker & Keogh 1995; Kotthoff 2012a; Zorbach-Korn 2015).

      Eng verbunden mit der problematischen Aufteilung in alltägliche und institutionelle Kommunikation ist der Begriff Asymmetrie, denn nicht selten wird allgemein von einer symmetrischen Alltagskommunikation und einer asymmetrischen Kommunikation in Institutionen ausgegangen (vgl. kritisch dazu Meer 2011: 32f.). Allerdings sind Asymmetrien und Ungleichheiten auf unterschiedlichen Ebenen grundlegend für jegliche Art der Kommunikation:

      [I]f there were no asymmetries at all between people, i.e. if communicatively relevant inequalities of knowledge were non-existing, there would be little or no need for most kinds of communication! (Linell & Luckmann 1991: 4)

      Auch Drew und Heritage (1992a: 48) argumentieren, dass es in dem Sinne in Gesprächen gar keine Symmetrie gebe, da sich auch in Alltagsgesprächen jeweils lokale Unterschiede, z.B. themenbezogene Unterschiede von Wissensständen, finden, die sich ständig wieder verschieben. Zudem ist alleine die lokale Unterscheidung der Beteiligungsrollen SprecherIn und HörerIn auf der Ebene einzelner Sprecherbeiträge asymmetrisch strukturiert (vgl. Linell & Luckmann 1991: 7). Mit Linell und Luckmann (1991: 4f.) gehe ich daher davon aus, dass Symmetrie auf lokaler Ebene eines einzelnen Sprecherbeitrags nicht sinnvoll beschrieben werden kann, sondern nur in Bezug auf längere Sequenzen untersucht werden soll. Von globalen Asymmetrien bezogen auf ein gesamtes Gespräch oder bezogen auf den Gesprächstyp kann allerdings erst gesprochen werden, wenn sich in institutionellen Kontexten lokale Asymmetrien an wichtigen Positionen im Gespräch (z.B. Eröffnung oder Beendigung) zugunsten der Institutionsvertretenden häufen (vgl. Brock & Meer 2004: 194). Es muss daher stets differenziert werden, ob es sich um lokale oder globale Ungleichheiten handelt und auf welcher Ebene sich die Asymmetrien manifestieren (z.B. Beteiligungsstrukturen, Wissensbestände). Brock und Meer (2004: 203) schlagen dann auch vor, Asymmetrien nicht voreilig mit globaler ausgerichteten Begriffen wie Macht, Dominanz oder Hierarchie gleichzusetzen, sondern neutral und lokal als „kommunikative Ungleichheit in Bezug auf ein spezifisches Kriterium oder Phänomen“ zu definieren.

      Im Zusammenhang mit institutioneller Kommunikation und Asymmetrien wird auch häufig von der Experten-Laien-Kommunikation