In Bezug auf die Adressierung drängt sich in Mehrparteieninteraktionen eine begriffliche Differenzierung auf, um zwischen gemeinten und tatsächlichen Rezipierenden zu unterscheiden. In den unterschiedlichen Untersuchungen und Konzeptionen des Recipient Designs tauchen die Begriffe AdressatInnen, RezipientInnen und Gesprächsteilnehmende mit teilweise anderen Implikationen auf. In Anlehnung an Levinson (1988: 171ff.) werden als Adressierte diejenigen Rezipierenden verstanden, die direkt adressiert werden. Die Adressierung kann auf drei Ebenen erfolgen: durch sprachliche Adressierungsformen, durch ein spezifisches Recipient Design sowie durch die Körperorientierung (Gesten, Blickverhalten) bzw. durch eine Kombination der verschiedenen Verfahren (vgl. Hartung 2001: 1348ff.; Levinson 1988: 174), wobei allerdings in den vorliegenden Audiodaten nur erstere Verfahren untersucht werden können. Als sprachliche Adressierungsformen zählen Personalpronomen, Eigennamen, Titel oder auch Code-Switching (vgl. Hartung 2001: 1351; Levinson 1988: 179). Der Begriff der Rezipierenden gilt für all diejenigen, die mit dem Gesagten erreicht werden wollen, für die also eine Äusserung gestaltet wird (vgl. Konzeption des Recipient Designs). Gesprächsteilnehmende schliesslich sind ratifizierte Beteiligte der Interaktion. Die weitere Ausdifferenzierung der Beteiligungsrollen ist Bestandteil der folgenden Überlegungen (vgl. v.a. Kap. 2.3.1).
2.3 Organisation interaktiver Beteiligung
Mit dem Recipient Design hängt auch unmittelbar die Ausgestaltung und Organisation interaktiver Beteiligung zusammen, denn bei der gemeinsamen Aushandlung der jeweiligen Beteiligungsrolle ist die Ausrichtung am Gegenüber unumgänglich. Grundsätzlich lässt sich für die Beteiligungsrollen festhalten, „dass Sprecher – in ihrer Sprecherrolle – auch hören und dass Hörer, während sie zuhören, auch sprechen“ (Schwitalla 1993: 69). Im Folgenden werden die Beteiligungsrollen zuerst isoliert auf Rezeptions- und Produktionsseite betrachtet, um schliesslich das Zusammenwirken der Gesprächsteilnehmenden in der Interaktion zu diskutieren.
2.3.1 Beteiligungsrollen in der Interaktion
Von Goffman (1981), und später ausführlicher von Levinson (1988), wird eine begriffliche Ausdifferenzierung der Kategorien HörerIn und SprecherIn vorgeschlagen, die der Komplexität der möglichen Aktivitäten gerecht werden soll. Seine Überlegungen zu den verschiedenen Rollen der Beteiligten beginnt Goffman (1979; 1981)1 mit der Einführung des Begriffs footing, was soviel bedeutet wie „the alignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance“ (Goffman 1981: 128). Levinson (1988: 163) ersetzt footing durch den Begriff participant role, welcher hier mit Beteiligungsrolle übersetzt wird. Während die Ausführungen von Goffman theoretischer Natur sind, versucht Levinson (1988: 164f.) empirische Evidenzen für die vorgeschlagenen Konzeptionen zu liefern und präsentiert weitere Einteilungen, die auf seinen Analysen zu grammatischen Kategorien in verschiedenen Sprachen und zum tatsächlichen Sprachgebrauch basieren.
Im Folgenden werden zuerst die Beteiligungsrollen aufseiten der Rezipierenden dargestellt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass in der Mehrparteieninteraktion die Anwesenden unterschiedliche Rollen einnehmen. Die Beteiligungsrollen aufseiten der Sprechenden sind im ersten Moment hingegen nicht so klar ersichtlich wie diejenigen aufseiten der Rezipierenden. Gemeint ist unter anderem, dass Sprechende nicht nur ihre eigenen Positionen vertreten, sondern auch Redeanteile von anderen Figuren in die eigene Rede einbetten. Es geht in dieser Diskussion also u.a. um verschiedene Arten der Redewiedergabe.
Beteiligungsrollen der Rezipierenden
Rezipierende können auf ganz unterschiedliche Art in einer Interaktion beteiligt sein, weshalb Goffman (1981: 131ff.) den Beteiligungsrahmen (participation framework) entwickelt und unterschiedliche Beteiligungsrollen unterscheidet. Dadurch wird erstmals eine Differenzierung der Gesprächsbeteiligten vorgenommen, die eine Untersuchung dessen erlaubt, welche Rezipierenden die hauptsächlich gemeinten und welche eher zufällige Mithörende einer Äusserung sind. Grundsätzlich nimmt er eine Unterteilung in ratifizierte und nicht-ratifizierte Beteiligte vor, wobei erstere einen ‚offiziellen’ Teilnahmestatus haben und letztere eher zufällige Rezipierende einer Aussage werden.
Bei den ratifizierten Beteiligten unterscheidet Goffman (1981: 133) im Falle von Mehrparteieninteraktionen die adressierten und die nicht-adressierten Rezipierenden. Adressierte Rezipierende sind
oriented to by the speaker in a manner to suggest that his words are particularly for them, and that some answer is therefore anticipated from them, more so than from the other ratified participants (Goffman 1976: 260).
Sie zeichnen sich also einerseits dadurch aus, dass von ihnen gelegentlich die Turnübernahme erwartet wird. Andererseits sind die adressierten Rezipierenden auch diejenigen, für die eine optimale Ausgestaltung des Recipient Designs vorliegt ( „oriented to by the speaker in a manner to suggest that his words are particularly for them“). Diese Verbindung von Beteiligungsrollen und Recipient Design wird von Goffman nicht hergestellt, jedoch ist die Nähe der beiden Konzeptionen kaum zu übersehen. Was Goffman hier unter Adressierung versteht, kann m.E. als Design-Aktivitäten verstanden werden (vgl. Kap. 2.2).
Während die Adressierung zwar teilweise sprachlich realisiert wird, spielen Blickverhalten und Körperzuwendung eine wichtige Rolle und so muss bei einer umfassenden Analyse der Adressierung die multimodale Umsetzung mitbeachtet werden (vgl. Goffman 1981: 133; Lerner 2003: 178). Vor diesem Hintergrund werden für die Analysen zu den Beteiligungsrollen (vgl. Kap. 6) insbesondere Sequenzen gewählt, die beispielsweise aufgrund ihrer expliziten verbalen Adressierung eine Aussage zulassen. Als explizite Adressierung werden die namentliche Adressierung sowie die Anredepronomen gezählt (vgl. Lerner 2003: 178, 182ff.), welche im Falle des Deutschen eine eindeutige Referenz sein können, wenn beispielsweise eine Lehrperson zu einem Kind (Verwendung von du) oder zu einer anderen erwachsenen Person (Verwendung von Sie) spricht.1
Die Kategorie der nicht-ratifizierten Beteiligten nennt Goffman (1981: 132) bystanders und gliedert sie in zufällig Mithörende (overhearers) und absichtlich Lauschende (eavesdroppers). Bei beiden Untergruppen betont er den nicht-offiziellen Status der Teilnehmenden. Allerdings können Sprechende die nicht-ratifizierten Beteiligten unter Umständen auch wahrnehmen, beispielsweise