Beurteilungsgespräche in der Schule. Vera Mundwiler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Mundwiler
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000140
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(Baker & Keogh 1995: 264; vgl. auch Walker 1998: 175) lädt geradezu ein, die tatsächlichen Ereignisse zu betrachten und zu analysieren (vgl. auch Baker & Keogh 1995: 265). Hierfür bietet die Gesprächsanalyse eine optimale Möglichkeit, mit dem Blick auf die kleinsten Details auch verborgene Aktivitäten zum Vorschein zu bringen. So zeigen dann auch bereits durchgeführte Studien, dass in diesen Interaktionen keineswegs ‚nichts erreicht wird’.

      1.1.2 Gesprächsanalytische Forschungsergebnisse

      Die gesprächsanalytische Erforschung schulischer Beurteilungsgespräche bildet insbesondere im deutschsprachigen Raum ein Forschungsdesideratum, welches erst seit wenigen Jahren erkannt wurde und seither vermehrt Beachtung findet. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht beschäftigt sich Kotthoff (2012a; 2012b; 2014; 2015a; 2015b) mit dem Gesprächstyp und es sind inzwischen mehrere Studien dazu entstanden. Sie fokussiert insbesondere interkulturelle Aspekte, Fragen zu Kategorisierungen von SchülerInnen und die Aushandlung von Konsens und Dissens. Aus soziologischer Sicht untersucht Zwengel (2010; 2015) Gespräche zwischen Lehrpersonen und Eltern mit Migrationshintergrund, die teilweise von den anwesenden SchülerInnen selbst übersetzt werden. Weiter wurden Ergebnisse aus studentischen Abschlussarbeiten publiziert: Ackermann (2014) konzentriert sich auf lehrpersonenseitige Positionierungen und Zorbach-Korn (2015; vgl. auch Korn 2013; 2014) beschäftigt sich mit (A-)Symmetrien in interkulturellen Beurteilungsgesprächen. Nebst der hier vorliegenden Studie sind zudem eine Reihe weiterer Dissertationen in Vorbereitung oder inzwischen erschienen,1 wovon einige der Ergebnisse in Hauser und Mundwiler (2015b) versammelt werden. Diese Häufung von beinahe zeitgleich erarbeiteten (Dissertations-)Projekten bezeugt die Aktualität der Thematik sowie die Wichtigkeit des Forschungszweiges.

      Weitere gesprächsanalytische Studien zur Interaktion zwischen Lehrpersonen und Eltern wurden in Australien (Baker & Keogh 1995; Silverman, Baker & Keogh 1998), England (Allistone 2003; MacLure & Walker 2000; Walker 2002), Nordamerika (Cheatham & Ostrosky 2011; Cheatham & Ro 2011a; 2011b; Howard & Lipinoga 2010; Mehan 1983; 1991; Pillet-Shore 2003; 2012; 2015) und Schweden (Adelswärd & Nilholm 1998) durchgeführt und befassen sich jeweils mit unterschiedlichen Schulstufen vom Vorschulalter bis zur Sekundarstufe II und es sind sowohl ‚Regel’- als auch Sonderschulen vertreten, die jeweils in den länderspezifischen Bildungslandschaften zu verorten sind. Im Folgenden wird der aktuelle Forschungskontext nach bearbeiteten Themen angeordnet vorgestellt.

      Kategorisieren und Positionieren

      Die ersten Studien zur Interaktion zwischen Lehrpersonen und Eltern stammen aus den 1980er und 1990er Jahren und wurden von Mehan (1983; 1991; 1996) an nordamerikanischen Grundschulen durchgeführt. In den Gesprächen geht es um Entscheidungsprozesse in Bezug auf die Beförderung von SchülerInnen in die jeweils nächste Regelklasse beziehungsweise die Versetzung in eine Sonderschule. Diese Entscheidungen werden von „committees of educators“ (Mehan 1983: 187) getroffen, welche aus Psychologen, medizinischem Pflegepersonal, administrativem Personal, Lehrpersonen und Eltern bestehen. Mehan stellt fest, dass eine allgegenwärtige Aufgabe von Lehrpersonen darin besteht, ihre SchülerInnen zu bewerten und kategorisieren, sei dies ad hoc im Unterricht oder dann in den Besprechungen zu Beförderungsentscheiden, in denen die SchülerInnen der Kategorie ‚normal’ oder ‚handicapped’ zugeordnet werden (vgl. z.B. Mehan 1991: 81ff.). Seine Untersuchungen zeigen auch, dass von den Eltern nur noch ergänzende Informationen eingeholt werden, sie aber wenig an den Kategorisierungen und den Entscheidungsprozessen beteiligt sind (vgl. Mehan 1983: 205).

      Ebenfalls mit Kategorisierungen von SchülerInnen beschäftigen sich Berenst und Mazeland (Berenst & Mazeland 2008; Mazeland & Berenst 2008) im Rahmen ihrer Studien zu Lehrpersonenkonferenzen an niederländischen Schulen sowie Cedersund und Svensson (1996) in ihrer Studie zu ‚Klassenkonferenzen’ in Schweden. Zwar geht es in diesen Studien nicht um die Übermittlung dieser Bewertungen an Eltern oder SchülerInnen, aber es finden sich sehr ähnliche Praktiken der Typisierung und Kategorisierung wie in Beurteilungsgesprächen. So zeigen Mazeland und Berenst (2008: 58) beispielsweise, wie Lehrpersonen ihre SchülerInnen durch vielfältige Praktiken charakterisieren, indem sie berichten, beurteilen, analysieren, erklären und kategorisieren. Im Anschluss an diese Kategorisierungen stellt Kotthoff (2012a: 315; 2015a) für Elternsprechstundengespräche fest, dass sich ebenfalls eine Vielzahl schulbezogener Kategorisierungen finden und sie unterscheidet grob Typenzuordnungen (z.B. GymnasialschülerIn), Fähigkeitszuschreibungen, Attitüdenzuordnungen, skalare Bewertungen von Aktivitäten sowie Erzählungen unterschiedlichen Typs (vgl. dazu Kotthoff 2015b).

      Einige Studien diskutieren Positionierungsaktivitäten von Lehrpersonen und Eltern und zeigen, wie die AkteurInnen idealisierte Identitäten ihrer jeweiligen Institution – Schule oder Familie – vorführen (vgl. Adelswärd & Nilholm 1998; Baker & Keogh 1995; Kotthoff 2012a). Dies kann sich beispielsweise dadurch äussern, dass sich die Eltern als Hilfslehrpersonen bzw. Ko-Lehrpersonen präsentieren, die sich gemeinsam mit dem Kind zu Hause um ein optimales Lernumfeld bemühen (vgl. Baker & Keogh 1995: 279; Kotthoff 2012a: 304). Die Aushandlung der idealisierten Identitäten verläuft gemäss Adelswärd und Nilholm (1998: 96) überwiegend konsensorientiert und auch Kotthoff (2012a: 299ff.) kommt zu einem ähnlichen Schluss und zeigt, dass Dissens nur in modalisierter Form angezeigt wird.

      In einer Studie von MacLure und Walker (2000) wird insbesondere die institutionelle Asymmetrie herausgearbeitet, die u.a. darin gesehen wird, dass Lehrpersonen extensives Rederecht eingeräumt wird und Eltern sowie SchülerInnen v.a. während den Eröffnungssequenzen die Beurteilungen eher passiv entgegennehmen (vgl. z.B. MacLure & Walker 2000: 8ff.). In einer unveröffentlichten Dissertation der University of London beschäftigt sich Allistone mit Eröffnungssequenzen in Beurteilungsgesprächen und bestätigt die vorherrschende Asymmetrie, die u.a. durch den einseitigen Zugriff auf schriftliche Unterlagen noch verstärkt wird (vgl. Allistone 2003: 151).

      Ackermann (2014) zeigt in ihrer Studie, wie Lehrpersonen durch Positionierungen auf die Gesprächsorganisation einwirken und für sich und die Beteiligten verschiedene Handlungsspielräume schaffen und mitgestalten. Sie fokussiert dabei u.a. auch Positionierungshandlungen, welche inkludierend auf die Gesprächsbeteiligung wirken und kommt zum Schluss, dass ein Ungleichgewicht zwischen der geglückten Inklusion der Eltern und derjenigen der anwesenden Kinder besteht. So kommt es in ihren Daten im Zusammenhang mit an Kinder gerichteten Inklusionshandlungen nur selten zu einem Sprecherwechsel, sondern eher nur zu kürzeren Ratifikationen (vgl. Ackermann 2014: 63ff.).

      Beurteilen und Bewerten

      Gemäss Kotthoff (2012a: 294) sind Bewertungsaktivitäten in Beurteilungsgesprächen allgegenwärtig und werden gemeinsam ausgeführt, sodass die „Ko-Konstruktion von Bewertung“ gewissermassen „als Leitmotiv“ für diese Gespräche verstanden werden kann. Allerdings zeigen ihre Daten von Sonderschulen auch, dass sich Eltern mit Migrationshintergrund weniger an den Bewertungen und Einschätzungen beteiligen können und diese fast ausschliesslich von den Lehrpersonen ausgeführt werden (vgl. Kotthoff 2012a: 315, 317f.).

      Pillet-Shore (2003) untersucht am Beispiel von der Äusserung okay die unterschiedlichen Bewertungsimplikationen, die je nach sequenzieller Einbettung von okay positiver oder negativer verstanden werden können. Einerseits funktioniert okay als bessere Variante von zwei möglichen Beurteilungen (binary metric), nämlich okay versus not okay, wobei letztere Beurteilung weitere Interventionen und Unterstützungsmassnahmen ins Spiel bringen würde. Diese Funktion taucht meist im Kontext von abschliessenden Beurteilungen auf (vgl. Pillet-Shore 2003: 287ff.). Andererseits kann okay auch als eine von vielen Beurteilungen funktionieren (gradated metric) und wird im Kontext weiterer Beurteilungsaktivitäten jeweils als upgrading oder auch als downgrading verstanden. Dadurch erhält okay zusätzlich die Funktion einer negativen Beurteilung (vgl. Pillet-Shore 2003: 300ff.). Diese Studie zeigt, dass der lokale Kontext einer Äusserung und die Orientierung der Teilnehmenden auf das Gesagte eine Beurteilung in ihrer Bedeutung mitgestalten können.

      In späteren Studien untersucht Pillet-Shore (2012; 2015) den Umgang mit Lob und Kritik in Gesprächen zwischen