Wie der Betrachter im Sermon im Sterben Christi seine Liebe und darin die des Vaters erkennt, so ist dies aus der Formulierung „davon Gott hat geboten“ ebenso ersichtlich: Das Ereignis geschieht nach dem Willen des Vaters.
Aus der Liebeserkenntnis heraus folgt im Lied die Sündenerkenntnis: Von dem Liebesgeschehen am Kreuz her wird Christus als Gnadensonne erkennbar, der das Herz des Menschen erhellt. In diesem Licht erkennt der Mensch, daß die Sünde, die zu Beginn allein als das universale Verhängnis zur Sprache kam, nun aus dem Herzen verschwunden ist; d.h. die individuelle Verlorenheit aufgrund der Sünde, die wie der Glaube im Herzen zu verorten ist, wird erkannt als der Vergangenheit angehörig und nicht mehr wirksam.
Am Ende des Sermon steht eine weitere Erkenntnis: Das Geschehen ist abgeschlossen. Niemand leidet mehr, weder Christus noch das eigene Gewissen. Entsprechend der oben beschriebenen Entwicklung zu einer neuen Schwerpunktsetzung Luthers beim exklusiven Sühnehandeln Christi ist auch im Lied jedes eigene Leiden und jede eigene Bezugnahme auf das Sterben Christi in seinem noch unabgeschlossenen Verlauf ausgeklammert. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Singende einsetzt, kann er schon „loben und dankbar sein“, denn das durch Christus erworbene Leben ist schon bei ihm eingekehrt. So ist die Betrachtung des Gekreuzigten in dem Lied eine, die vom Ende her erfolgt: Dank und Freude steht zu Beginn und am Ende des Liedes; der Blick auf das Lamm Gottes ist für den Betrachter allein Grundlage für das Gotteslob.
Wie sich dem Sermon folgend in der Betrachtung des leidenden Christus ein sakramentales Geschehen vollzieht, daß „der mensch alßo warhafftig new ynn got geporen“ ist, so vollzieht sich dies auch im Singen des Liedes: Der Singende tritt zu der feiernden Schar, die ihr Herz von dem Gnadenschein Christi erleuchten läßt. Aus der präsentischen Formulierung wird deutlich, daß die Gnade in der Gegenwart das Herz des Singenden erleuchtet und so der Sünde keinen Raum mehr läßt. Das Heilsgeschehen, der Sieg des Lebens über den Tod, hat zwar vor der Zeit stattgefunden, doch die Zueignung vollzieht sich in der Gegenwart. Statt der Sünde herrscht die Gnade, statt des Todes ist nun Christus selber der Herr über das Lebens des Singenden. Diese Wandlung, gleich einer Neugeburt, hat sakramentalen Charakter; unterstützt wird diese Bedeutung auch in dem Hinweis auf das Abendmahl, in dem Christus zur Seelenspeise des Glaubenden wird.
Infolgedessen ist auch der Weg der Betrachtung wie im Sermon als Beziehungsstiftung zu verstehen. Das Geschehen außerhalb des menschlichen Wirkungsbereiches und des menschlichen Zeitrahmens wird in der Betrachtung in dem Augenblick zum Geschehen am Einzelnen, in dem der Glaube das Blut Jesu dem Tod vorhält und er sich so auf den Sieg Christi über den Tod verläßt als ein für ihn gültiges Ereignis. So antwortet er auf die Beziehung, die Christus in seinem Tun zu ihm errichtet hat. In der Verbundenheit, die durch die Einwohnung des Lichtes Christi in seinem Herz stattfindet, ist die Christusbeziehung für ihn existentiell geworden.
Es zeigt sich also, daß der Weg, den der Betrachter des Kreuzesgeschehens nimmt, im Sermon und im Lied ein anderer ist. Die Grundaussagen über die Liebe Gottes, über die Sünde, über den Glauben und über das abgeschlossene Kreuzesgeschehen bleiben darin bestehen, aber der Ansatzpunkt der Betrachtung hat sich verändert. Grund dafür könnte der Ort des Liedes sein, das Osterfest, an dem der Singende von der Auferstehung her auf den Kreuzestod Christi blickt, im Gegenüber zum Sermon, der die Tradition der Passionsmeditation in der Passionszeit zum Anlaß nimmt. Doch wird dieser Perspektivwechsel auch der Entwicklung Luthers geschuldet sein, in der er sich allmählich von einem umgedeuteten Compassio-Gedanken abwendet und der Betonung des exklusiven Leidens Christi und damit dem Schwerpunkt des vollendeten Heilgeschehens zuwendet.
2.2.4.3 Zueignung der Passion im Singen
Der Ort und der Weg des Singenden im Bezug auf den Gekreuzigten
Bei dem Osterlied Luthers handelt es sich um eine rechte Passionsbetrachtung: Der Singende steht vor dem gekreuzigten Christus. Denn der erste Hinweis auf den Ort des Singenden in Form der ersten Formulierung im Präsens ist dieser: „Hie ist das recht osterlamb“.
In den Strophen zuvor ist im Praeteritum ein Bericht ergangen von dem vorzeitigen Geschehen, in dem Christus den Tod seiner macht über „uns“, die in ihrer Sünde ihm ausgelieferte Menschheit, beraubt hat.
Nun steht dem Singenden das „recht osterlamb“ vor Augen: Es sieht auf Christus, er sieht seine „heiße Liebe“, die ihn zu diesem Handeln gebracht hat, der Glaube, der geistlich schaut, ergreift das Blut des Lammes und hält es dem Tod als Unterpfand des Lebens vor.
In der Betrachtung des Gekreuzigten ist die eschatologische Hoffnung schon Gegenwart geworden: Der Tod hat seinen Stachel verloren, er ist nur noch ein Spott, der Würger kann nicht mehr Besitz über uns ergreifen, die Nacht der Sünden ist vergangen, Christus ist die Gnadensonne, die allein in unseren Herzen scheint, niemand anders als Christus ist es, auf den sich der Glaube ausrichtet, wir leben nun in seinem Herrschaftsbereich.
Die Antwort der Glaubenden auf das schon angebrochene eschatologische Heil ist das Feiern des Mahles: Ostern, das erneuerte Passahfest; das Fest der Befreiung aus der Gefangenschaft des Todes, der Herrschaftswechsel hat stattgefunden: das „hoh fest“ hat die Qualität des eschatologischen Freudenmahles in ungetrübter Gottesgemeinschaft.
Im Augenblick der Betrachtung des gekreuzigten Christus wird der Betrachter Teil der Ewigkeit Gottes: Das in der Vergangenheit vollendete Heilsgeschehen, das Aneignen im Glauben und die zukünftige Gottesgegenwart sind hier vereint. Der Glaubende gewinnt die Teilhabe am Heil, das Christus für ihn erworben hat.
So kann man sagen, daß im Vollzug des Singens des Liedes die singende Gemeinde zur eschatologischen Gemeinde wird. Die Betrachtung des leidenden Christus im gesungenen Lied findet seine Verwirklichung in der Feier des Mahles. So hat das Lied seine liturgische Verortung nicht nur im Osterfest, sondern im Gottesdienst, d.h. im Abendmahl der Gemeinde gefunden.
Der Schlüssel zur Passion: Zueignung im Glauben
Die Anknüpfung an das in diesem Lied als extra nos und vor der Zeit ausgewiesene Heilsereignis findet für den Singenden statt im Betrachten und im glaubenden Ergreifen des Blutes Christi als machtvolles Mittel gegen den Besitzanspruch des Todes auf ihn.
Aufgrund des Heilsgeschehens, das ohne menschliches Zutun geschieht, ist es ein Zueignen durch Christus, der gehandelt hat „für uns“ und der nun das Fest „scheinen laßt“, der als Sonne der Gnaden die Herzen der Glaubenden erleuchtet und die Sünde austreibt.
Eine Aneignung, also ein aktives Handeln des Glaubenden findet statt dort, wo das erste aktive Verb im Liedtext auftaucht: „das helt der glaub dem tode fuer“. Das erste Handeln ist also das Ergeifen des Blutes im Glauben, mit dem der Mensch sich dem Tod entgegenstellt im Vertrauen auf das, was mit dem Blut errungen wurde.
Der Glaube ist der Weg der Zueignung, denn im Glauben, in dem Christus an dem Einzelnen handelt, kommt ihm sein Sieg zu. Er weiß: Ich bin dem Tod nicht mehr ausgeliefert. Der Glaube ist es auch, der ihn in Christus hält: Er „will keins andern leben“, das eigene Leben ist in seiner grundlegenden, existentiellen Ausrichtung auf Christus untrennbar mit seinem verbunden. Hier findet sich das paulinische „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20) umgesetzt.
Im Lied wird deutlich, daß es bei der Zueignung des Sieges Christi nicht nur um die Übereignung seiner Verdienste an den Glaubenden geht, sondern daß die Gegenwart Christi die Gabe ist, daß also Christus Geber und Gabe zugleich ist.
In diesem Sinne formuliert Luther:
„Christus ist Gottes gnaden, barmhertzigkeit, gerechtikeit, warheit, weisheit, stercke, trost und seligkeit, uns von Gott gegeben on allen verdienst. Christus, sage ich, nicht, als etlich mit blinden worten sagen, causaliter, das er gerechtigkeit gebe, und bleibe er draussen, denn die ist tod, ia sie ist nimer gegeben, Christus sey denn auch selbs da, gleich wie die glentzen der sonnen und hitze