So rücken die Begriffe Anschauung9 und Verstehen (bzw. Auffassung) ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit:
Anschauung ist, ohne an Dasein (wie anschauliche Phantasmen, Phantome beweisen) des Angeschauten gebunden zu sein, das Vergegenwärtigen eines distinkten Inhalts in präsentativer Form. Sie bezeichnet ein Bewusstsein, das in klar umschriebener Weise ein qualitativ in sich Bestimmtes gegeben vorfindet und als Gegebenheit hinnimmt. Das Gegebene steht für nichts, sondern ist bloß da und bringt sich dar in größerer oder geringerer Klarheit und Deutlichkeit. Was sich darbringt hängt ab von der Haltung der Person, die aus der Fülle des Seins die entsprechenden Gehalte gewinnt, weil zu ihnen in entsprechende Einstellung kommt.10
Anschauungen sind demnach Vergegenwärtigungen eines distinktiven Inhalts in präsentativer Form. Diese müssten notwendiger Weise jemandem gegeben sein. Sie könnten entweder objektiv, also unabhängig vom Subjekt eines Bewusstseins, interindividuell, von einem Individuum loslösbar sein, ohne jedoch gleich eine überindividuelle, z.B. soziale Größe zu bilden, oder subjektiv, d.h. von einem Bewusstsein abhängig sein. Sie könnten jedoch auch intersubjektiv gegeben sein – ohne gleich objektiv zu sein–, was bedeutete, dass sie bis zu einem gewissen Grade in einen Raum zwischen Subjekten eintreten könnten, für die an diesem Raum teilhabenden Subjekte gegenwärtig wären.
Daneben hält sich Plessner für die verschiedenen Arten der Anschauung an das traditionelle Menschbild des Trimorphismus aus Geist, Seele und Leib, wobei der Leib auch in der Verbindung mit dem Wort Körper auftritt und zum Körperleib wird. Der Begriff Körperleib vereint eine materielle Seite, den Körper, mit einer psychischen Komponente, der Vorstellung eines Bewusstseins, sozusagen im Futteral eines Körpers zu stecken, sowie den entsprechenden Empfindungen dafür. Für Plessner ist diese Vorstellung eine der Gründe für die platonische Idee des Körpers als Grab der Seele, sie gibt jedoch für ihn auch eines der Motive für seine Bestimmung der menschlichen Subjektivität als exzentrischer Positionalität ab. Den drei Erscheinungsweisen der Einheit Mensch ordnet Plessner nun nicht sofort seine drei Anschauungsarten zu, sondern behält erst einmal nur die abstrakte Dreiteilung bei, welches als Dreier-Schema Anwendung findet: die antreffende Anschauung, welche sich in physischer Materie zeige und darstellbar sei, die innewerdende Anschauung, welche sich in psychischer Materie zeige, nicht darstellbar, sondern nur präzisierbar sei, und schließlich die der füllenden Anschauung, welche sich in der Gestalt aus der Vereinigung von Materie (Hyle) und Form (Eidos) zusammensetze, eine Empfindungs- und Ideenschau, die sich in prägnanten Gehalten zeige.
Anschauungen können darstellbar, präzisierbar, prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von solchen Gehalten, die physisch-intersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern oder Leibern oder psychisch-interindividuell erscheinen. Darstellbar ist jede direkt abbildbare ausgebreitete Gestalt, einerlei ob sie wirklich oder imaginiert ist, einem Raum angehört oder nur anzugehören scheint. Indirekt durch Bewegung etwa, Reaktionen irgendwelcher Art (Laute, Zeichen usw.) eindeutig festlegbare und insofern mitteilbare Gehalte, die sich zwar nicht abbilden lassen, ohne aber darum an Bestimmtheit in der Gegenwart und interindividueller Gegebenheit einzubüßen, sind präzisierbare Anschauungsgehalte.11
Doch selbst wenn der Trimorphismus, wie Plessner sagt, falsch sei, würde sich dennoch bestätigen, dass „wir die unmittelbare Ausdruckshaltung als typische Sinnbezogenheit des Leibes anerkennen“12 müssten. Wir stoßen hier wieder auf ein Leitmotiv des Plessnerschen Denkens, der unmittelbaren Gegenwart des Geistes im Körperleib13, der damit entgegen der cartesianischen Deutung der res extensa als Ort der sinnvollen Verschränkung zwischen Geist und Materie erkannt wird. Der sich in der Haltung des Körperleibs spiegelnde geistige Gehalt sei, wenn nicht gleich konkretisierbar oder präzise deutbar, ein Fall der prägnanten Anschauung, in der sich in Form der Gestalt (z.B. Körperhaltung) die Vereinigung materieller und kategorialer Gehalte zeige. Die Anschauung fülle sich mit diesen, mit Bestimmtheit zu identifizierenden, wenn auch nicht gleich zu deutenden Körperbildern an. Im Spiegel der Seele14, im Erlebnis15, könne sich die präzisierende Funktion der Sprache an der Deutung dieser Körperbilder interpretierend abarbeiten.
Plessner hält mit Scheler alles Seelische für interindividuell, „geistige Akte dagegen sind rein individuell und könnten nur immer von einem Individuum erlebt werden.“16 Sprache könne die absolute Isoliertheit der Individuen bis zu einem gewissen Grade aufheben. Die über deren Zeichen vermittelten Inhalte jedoch müssten, um voll und ganz verstanden zu werden, von jedem einzelnen Individuum wiederum durchlebt werden. Wenn dieses Durchleben nicht stattfände, gestattete die Vermittlung durch Sprache, deren Bedeutungen „interindividuell präsent“17 seien, dem Individuum zwar ein Verstehen, nicht jedoch im vollen Sinne des Wortes.
Unter diesem Aspekt gesehen leistet die Sprache durch die Funktion des Meinens eine universelle Interindividualisierung. Sie sucht Darstellbares und Nichtdarstellbares eindeutig fassbar zu machen und durch die Bedeutung von Worten und Sätzen über die Zone interindividuellen seelischen Seins noch hinausgreifend die gesamte Weltfülle in den interindividuellen Besitz zu bekommen.18
Mit dieser universalisierenden Funktion der Sprache könnten prinzipiell alle Gegenstände und Sachverhalte in den Bereich präzisierbarer Darstellung aufgenommen werden. Der enorme Nutzen für die Menschheit wird sofort einsichtig: Die Individualitätsgrenzen werden überschritten und Inhalte für alle zugänglich, wodurch „die Überwindung der durch Natur und Wesen gesetzten Gemeinschaftsbindung zugunsten einer Befreiung und Erhebung aller in das spielende Leben der Gesellschaft“19 ermöglicht werde.
Der Gegenstand der antreffenden Anschauung sei in seinen darstellbaren Gehalten der physischen Materie gegeben, derjenige, der innewerdenden Anschauung in den präzisierbaren Gehalten der psychischen Materie. Bliebe für die füllende Anschauung der prägnanten Gehalte die Frage nach ihrer eigentlichen Erscheinung. Sie sei eine Kombination aus „Empfindungsschau und Ideenschau“20. Plessner versucht diese Frage mit Hilfe des Gestaltbegriffes zu lösen, dem er die Aufgabe der Vermittlung eidetischer mit hyletischen Gehalten überträgt.
[…] daß der hyletische Gehalt der Empfindung und der eidetische Gehalt der Wesensschau zwar strukturlos sind, darum aber doch nicht völlig nackt und formlos sein können, da das Bewusstsein in ihnen selbst die Präzision findet, durch welche sie für die Anschauung qualitative Prägnanz und Unterscheidbarkeit besitzen. […] für alle Gehalte, komplexe und einfache, das Grundschema: sie sind notwendig aufgebaut aus einer Stoff- und einer Formkomponente. Jeder Gehalt hat Stoff und Form.21
Eidetischer Gehalt und hyletischer Gehalt jedoch haben bei Plessner keine rein ideale oder stoffliche Komponente, sondern tragen Spuren des jeweilig anderen an und in sich:
Hier ist die Stofflichkeit luzide, durchsichtig, lauter, dort ist sie undurchsichtig, aufdringlich, trübe.“22
Auf jeden Fall aber besäßen komplexe Anschauungsgehalte Struktur, und „das heißt Gestalt“23. Neben den kategorialen Gehalten besteht bei Plessner die quidditas der Scholastik als unabhängige und besondere Einsicht des „eidetischen Tiefblicks“24 Vermittelnde. Zu ihr gehöre ein „bestimmtes kontemplatives Training und mehr als Zurückhaltung im Urteil über die Welt“25. Bei ihr sei eher das schauende Bewusstsein als die strenge Beobachtung am Werke, und Plessner beschreibt sie als eine Art „Witterung für die Wesenheit seines Milieus“26, die der Mensch grundsätzlich besitzen müsse.
Es muß also eine letzte, alles nur vorkommende Was zu seiner Qualität bestimmende Gehaltfülle, das [87] Rote zum Rot, die Farbe zur Farbe, die Figur zur Figur, das Ding zum Ding, das Wesen selbst zum Wesen machende Formwelt geben,