Transzendierende Immanenz. Manfred Bös. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred Bös
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302018
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poietikos6 mit eigener Handlungsenergie aus. Scheler erweitert diese Vorstellung des «Ideendenkens»7 um „eine bestimmte Art der «Anschauung», die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mit umfasst“8, und nennt sie «Geist»9. Dessen Sitz sei die «Person»10, welche nicht zu den psychischen Lebenszentren gehöre. Er charakterisiert Geist vor allem durch dessen „existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit […] von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom «Leben» und allem, was zum Leben gehört – also auch von seiner eigenen triebhaften «Intelligenz».“11

      In der Folge besitzt also ein geistiges Wesen wie der Mensch eine singuläre, diesen von allen anderen Lebewesen unterscheidende Freiheit. Er sei „umweltfrei und, wie wir es nennen wollen, «weltoffen»: Ein solches Wesen hat «Welt».“12

      Das mit Geist begabte Lebewesen Mensch gehe nicht wie das Tier ekstatisch in seiner Umwelt auf, sondern könne das „Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst“13 erfassen, weitestgehend ungestört von den Triebsystemen. Deshalb bedeutete die Begabung mit Geist vor allem das Erfassen der Welt als eine sachliche: „Geist ist daher Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst. Geist «hat» daher nur ein zu vollendeter Sachlichkeit fähiges Lebewesen“14. Vollendete Sachlichkeit heißt hier, im Besitze vollständiger Gegenstandskategorien zu sein, welche es dem Menschen erlauben, einen Gegenstand auch unter veränderten Bedingungen, selbst als veränderten Gegenstand noch identifizieren zu können. Die Welt löst sich dem Menschen nicht in triebbestimmte Beziehungen auf, sondern ihre Gegenstände bleiben isoliert und bestimmbar. Der geistbegabte Mensch kann sozusagen durch sich hindurch, unter Hintanstellung seiner selbst auf die Welt hin blicken. Was er sieht, weise zugleich über sich hinaus in eine Offenheit, welche den Bann der tierischen Umwelt hinter sich gelassen habe. Im Blick des Menschen eröffne sich nun zugleich das, was hier und jetzt nicht zu sehen ist, das Nichtanwesende, die Negation des positiven Teiles der erfahrbaren Welt:

      Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße «weltoffen» verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.15

      Der Geist ist das Organ, vermittels welchem der Mensch mit dem Weltengrund direkt und vor allen anderen Lebewesen verbunden sei. Es sei der Geist, der ihm echte Einsicht in den Aufbau der Welt gewährt, da der Geist durch das Handeln des Menschen, seines non non fiat, der Welt als Drang entsagt und so dem Geist die Energie verleihe, den Weltengrund zu erkunden. Im Menschen träfen sich Geist und Leben.

      Der Mensch ist nach Scheler kein vom andrängenden Leben auf einer ihm sich als Widerstand offenbarenden Welt hin fortgetriebenes Wesen, sondern (anders als bei Alsberg in der Durchführung seiner intelligiblen Instrumentenmacherkunst sich weiterentwickelndes Tier) eines, welches die Einheit dieses und ein dem Leben entgegen gesetzten Prinzips, des asketischen Prinzips des Geistes, der mit Einsicht in den Wesensgrund der Welt jenen Drang so zu regieren wisse, dass er in actio der natura naturans des sich entwickelnden Göttlichen mittue16 und der Welt auch ihr innerstes Leben ablausche, darstelle. Das Schelersche Lebewesen Mensch ist ein anthropos metaphysikos, ein Wesen also, welches im Unterschied zu allem übrigen Leben als einziges qua seines Geisthabens Einsicht in die Wesenszusammenhänge besitzt. Kein werkzeugintelligentes Tier also, sondern mit Selbstbewusstsein ausgestattet erscheint der Mensch. Dieses Selbstbewusstsein ist das Resultat einer „zweiten Dimension und Stufe des Reflexaktes“17 und zugleich der Vollzug des ungegenständlich Geistigen, welcher allein im Akte der Sammlung erreicht werden kann.

      Sammlung, Selbstbewusstsein und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden eine einzige unzerreißbare Struktur, die als solche erst dem Menschen eigen ist.“18

      Mit der Fähigkeit zur Gegenständlichkeit sowohl seinem Körper wie der Welt gegenüber, kann der Mensch die für seine Beziehung zum Weltengrund entscheidende Frage stellen: Warum ist Etwas und nicht viel mehr Nichts? In dieser Frage ließen sich alle Fragen nach den jeweilig einzelnen Wesen zusammenfassen. Es ist die Frage nach dem to ón dem höchsten allgemeinen Seinsbegriff sowie nach dessen umfassender allübergreifender Ordnung19. Nichts anderes bedeutet die Schelersche Wesensschau als die Einsicht in diese Ordnung via Reduktion der Vielfalt der Welt auf Exempla dieser und deren Ansicht als Ideen.

      Der Künstler und der Metaphysiker

      Zwingend muss Scheler die Existenz eines „übersingulären Geistes“1 annehmen, wenn er „eine in dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom menschlichen Bewusstsein annehmen und dem Urseienden selbst als eines seiner Attribute zuschreiben“2 möchte. Da Akt und Idee bei ihm in einem Wesenszusammenhang stehen, resultiert aus dieser Mechanik der „Weltrealisierung“3 und dem entsprechenden menschlichen Mitvollzug der Zusammenfall von „Auffinden“ und „Entdecken“4, ein „wahres Mithervorbringen“5 aus dem „Zentrum und Ursprung der Dinge selbst heraus“6. Die Klammer, welche die Welt als drängenden Willen einerseits und ordnenden Geist andererseits zusammenhält, verbürge, dass auch der Mensch als Leben und Geist in sich fassendes Wesen sich auf den Urgrund dieser Dynamik zurückbeugen könne, Einsicht in dessen Entwicklung genieße und es ihm ermöglicht werde, tatkräftig daran mitzuwirken. Die Figur des Künstlers ist demnach eine der sozialen Typen – wie auch der Philosoph etc. –, welche neben Gott diese Einsicht in Werke umzusetzen wisse. Der Mensch als Künstler besitze weit über das übliche Erkenntnisniveau der Menschen allgemein hinaus quasi göttliche Einsicht in den Weltengrund und teile diese durch sein Werk der Menschheit mit.

      An der Figur des Künstlers bestätigt Scheler in ausgezeichneter Weise seine Ausgangsthese, dass die Wesensbestimmung des Menschen als ein Sonderfall in der Welt des Lebendigen zu Recht bestehe. Denn als homo faber wisse der Künstler zweckgerichtetes Handeln umzusetzen, ein Werk zu erschaffen, und als anthropos aesthetikos metaphysikos besitze er echte Einsicht in die Wesenszusammenhänge. Das berühmte Kantische Diktum des Künstlers als Genie7, dessen ingenium der Kunst ihre Gesetze vorzuschreiben wisse, erfährt hier eine der möglichen Auslegungen, denn der Schelersche Künstler lässt die Gesetze der Welt aus einer Einsicht in die Wesenszusammenhänge heraus in sein nach ästhetischen Kriterien erschaffenes Werk einfließen, welches als idealische Einheit zwar selbst keine Welt schafft, sondern nur bildet, „was nicht da ist, was aber «würdig» wäre, «verdiente», da zu sein nach gewissen ästhetischen Wertideen.“8.

      Beide, der Künstler und der Metaphysiker bedienen sich zur Erlangung ihrer Einsichten bzw. Ideen – was Scheler für den Künstler „conceptio“9 nennt – der Methode der „Daseinsreduktion […] d.h. durch bewusste Zurückhaltung alles «Begehrens», im Verhältnis zu welchem Welt nur als «real» gegeben ist.“10

      Das Ziel des Metaphysikers sei die Erkenntnis des Ganzen, das des Künstlers das Werk, welches er als „ein kleiner Gott – schafft […] eine Welt – aber im Kleinen […] in der Zeichensprache der Qualitäten der verschiedenen Sinne und nach den Gesetzen dieser Zeichensprache für jede Kunst eine eigene.“11

      Allerdings leiten den Künstler dabei seine „ästhetischen Wertideen“12. Der Künstler begibt sich also „an eine Werdestelle der Welt“13, wo er dem Grunde der Dinge ansichtig werden konnte, noch bevor „sie das «fiat», der rational undurchdringliche Wille noch nicht so oder anders ins Dasein setzte, da sie nur ihrem Wesen und ihren Ideen nach vor seinem Geiste gleichsam ausgebreitet lag.“14

      Seine Kunst besteht darin, das Erschaute in der geistigen Objektivierung des Geschauten zur Darstellung zu bringen, sei es als Maler, als Bildhauer oder Dichter etc. Den Prozess der Objektivierung beschreibt Scheler als:

      […] er steigt vom Keime eines gegebenen Urphänomens herab und exemplifiziert das Urphänomen an dieser konkreten Gestalt, die er als ideales Bild frei erschafft.15

      Allerdings erlange der Künstler selbst erst die wirklich volle Einsicht in das ihm in seiner conceptio ursprünglich nur „keimhaft“16 Gegebene allein im Prozess und „kraft