Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit können also neben innerseelischen Vorgängen auch soziale Beziehungen regulieren. Dann nämlich, wenn aufgrund des Ausdrucksvermögens des Lebendigen, der Artgenossen, sowie der damit verbunden Signale, „«Nachahmung» und «Kopieren»“16 stattfinden kann. Es handelt sich hier erneut um den Wiederholungstrieb der Lebewesen, diesmal jedoch angewandt auf Fremdverhalten und -erleben, auf dem der Vorgang beruht. An dieser Stelle erscheint nun erstmalig die Tradition.
Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der «Tradition», die zu der biologischen «Vererbung» eine ganz neue Dimension der, Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt […].17
Diese müsse jedoch aufs Schärfste von der willkürlichen Erinnerung (Anamnesis) aufgrund von Überlieferung getrennt werden. Außerdem bleibt Scheler dabei, dass die Entwicklung des Menschen grundsätzlich auf „einem zunehmenden Abbau der Tradition“18 beruht.
In den Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit erkennt man unschwer die Figuren der Metonymie und der Metapher, sei es als rhetorische, stilistische oder strukturalistische oder als philosophisch-erkenntnistheoretische Figur wie bei Aristoteles19 bis hin zu Karl Eibl20 und Blumenberg21. In Kopie und Nachahmung als Mimesis erkennt man weitere für die Ästhetik grundlegende Prinzipien des Intrapsychischen wie Interpsychischen.
Durch die zunehmenden dissoziativen Vorgänge bei der Entwicklung und dem Erklimmen der Stufenleiter des Lebendigen lösen sich die assoziativen Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit kompensatorisch heraus. Sie bilden auch unter äußeren Zwängen und innerem Drängen die Bedingung der Möglichkeit für Re- und Neukonfigurationen von Empfindungen, Vorstellungen, Trieben und Bedürfnissen. Berührung und Ähnlichkeit rühren aus dem Gesamtkomplex der instinktiven Verhaltensweisen und sind als das Angrenzend-Dazugehörige: Berührung und das Sich-überschneidend-Dazugehörige: Ähnlichkeit, bestimmbar. Ihre propädeutische erkenntnistheoretische Natur lässt sich vor allem in ihrer das Sein zwar gliedernde, nicht jedoch durch eine ausschließende Funktionen ordnende erkennen. Berührung und Ähnlichkeit kennen kein tertium non datur. Mit dem Dazugehörigen-im-Angrenzenden und dem Dazugehörigen-im-sich-Überschneidenden (in z.B. Gestalt, Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Fühlen oder Größe, Aufenthaltsort, Menge etc.) ist zwar eine Gliederung als innere Grenze, jedoch kein kategorisch ausgrenzendes Kriterium gegeben. Es gibt noch keinen Horos, kein Definiens, das hier Platz greifen könnte. Es ist die Phylé des Lebendigen selbst, welche in dialektischer Bewegung auf jeder neuen Stufe immer komplexere Differenzierungen und somit immer weitere physische wie psychische Verhaltens- und Repräsentationsweisen der Lebewesen hervortreibt.
Mit dem Erstarken des assoziativen Prinzips geht der Zerfall des Instinktes einher. Ist der Instinkt ein Charakteristikum der Art, so beginne mit den assoziativen Vorgängen die relative „Herauslösung“22 des Individuums aus der Erstarrung des Instinktes. Gleiches gelte für „Triebe, Gefühle, Affekte“23. Löst sich z.B. der Sexualtrieb aus seiner natürlichen Umklammerung und folgt nicht mehr dem Rhythmus des Lebens, kann er sich zu einer selbstständigen „Quelle der Lust“24 und zu einem Zweck wandeln. Konterkariert wird die Befreiung des Seelischen mit dem, was Scheler, „organisch gebundene praktische Intelligenz“25 nennt, die „vierte Wesensform des psychischen Lebens.“26 Mit ihr erscheint die „organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung“27. Organisch, da alle diese inneren und äußeren Verhaltensweisen im Dienste der Trieberfüllung oder der „Bedürfnisstillung“28 stehen. Intelligentes Verhalten definiert Scheler zunächst „ohne Hinblick auf psychische Vorgänge“ wie folgt:
Ein Lebewesen verhält sich «intelligent», wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes – sei es «kluges», sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d.h. «törichtes» («töricht» kann nur sein, wer intelligent ist) – Verhalten neuen weder art- noch indivdualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhafte Aufgabe zu lösen.29
Steht diese Intelligenz im Dienste geistiger Ziele „erhebt sie sich über Schlauheit und List“30. Auf der psychischen Seite bedeute dies die „plötzliche aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt“31. Mit dem Hinweis auf die Köhlerschen Studien zu Schimpansen diskutiert Scheler, ob diese Art der Intelligenz zumindest einigen wenigen Tieren zugeschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass Köhler mit „vollem Recht […] seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen“32 zuspreche:
[…] auch nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehung der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zu Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.33
Der vom Ziel gepackte Trieb verlängere sich sozusagen in die Umwelt des Tieres hinein und verwandele darin befindliche Dinge in Quasi-Gegenstände zu seiner Erreichung: „Die Triebdynamik des Tieres selbst ist es, die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt.“34 Wir beginnen hier – nach Scheler – „das Kausal- oder Wirkphänomen“ in seinen Ursprüngen zu „belauschen“35. Allerdings handele es sich hier nicht um irgendeine reflexive Tätigkeit, sondern um „eine Art anschaulicher Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. […] Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.“36
Der Mensch ist weltoffen
Bis zu dieser Stelle der Beschreibung des Lebendigen reichen die von Scheler so genannten seelischen oder psychischen Stufen: „Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl“1 und es stellt sich ihm nun die Frage, ob zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller oder ein wesentlicher Unterschied bestehe. Eine Gruppe sehe sich gezwungen einen „überquantitativen Unterschied“2 zu machen und den Tieren Intelligenz grundsätzlich abzusprechen, die andere verlängere das oben Beschriebene, was zur Theorie des «homo faber»3 führe. Beiden Seiten versagt Scheler seine Zustimmung und meint:
Das Wesen des Menschen und das, was man seine «Sonderstellung» nennen kann, steht hoch über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit nennt, […] Das neue Prinzip steht außerhalb alles dessen, was wir «Leben» im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum «Menschen» macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der «Psyche» –, sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die «natürliche Lebensevolution» zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das «Leben» ist.4