Der Leib und die Gegenwart von Geist
Nach dieser Synthesis widmet sich Plessner der genaueren Betrachtung des Gehörs, des Gesichtssinnes und der zuständlichen Modalitäten.
Das Kapitel der Ästhesiologie des Gehörs gehört zu den zentralen Abschnitten der Ästhesiologie des Geistes. Denn Plessner beschreibt hier das Phänomen der „Adäquation der Ausdrucksbewegung zum Ausdruckssinn: im Tanz zur Musik“1. Nicht allein die Tatsache, dass beide, Musik und Tanz, Kunstformen sind, die in der Zeit sich abspielen, verbinde sie, sondern besondere Aufmerksamkeit verdiene die Tatsache, dass beide Kunstformen im Ablauf bewegter Elemente Sinngehalte darstellten, welche gegenseitig – musikalisch, tänzerisch – vermittelt werden könnten, und zwar nicht nur in der Form einer einfachen Reaktion des einen auf das andere, sondern in der „Angleichung der Leibeshaltung an den Sinngehalt“2. Hier werde in thematischer Form ein „Minimum an Ausdeutbarkeit“3 gegeben, welches sich in der Gliederung der Funktion der Ordnung4, in Arsis, Thesis und Synesis greifbar darstellt5. Gehörte noch die subjektive Zeitbetrachtung in diese Überlegung einbezogen, so stellt sich dringend die Frage:
wie kann gegenständliche Form (und das ist jede Tonlinie) einen so bezwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes ausüben, dass er an die Gründe der Seele rührt und aus dieser Erregung seine plastische Kraft zieht?6
Weder Form noch Bewegung sind nach Plessner für den zwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes verantwortlich, so dass allein noch der Stoff selbst übrig bliebe. Es sei das „Tonhafte am Ton“7, der akustische Stoff selbst, der als „Dauer“8 und schwellender Schall – „Nur ein Schall schwillt.“9 –, also dessen „voluminöser“10 Charakter, der in der Äquivalenz zur Haltung des Leibes, des stimmlichen Raumes: „Kopfton, Brustton, Tiefton“11, die Motivation zur Bewegung verständlich werden lasse.
Nur weil zur Förmigkeit des akustischen Stoffs die Schwellfähigkeit gehört, lassen sich Haltung und Geste dem Zug der Töne einschmiegen, glauben wir von ihm getragen zu werden, in ihm zu schwimmen, haben die Taktzäsuren Impulswerte, die Tonhöhen Lagewerte.12
Wenn in diesem Zusammenhang von Raum, bzw. stimmlichem Raum die Rede ist, gehe es nicht um die physikalische Bedeutung dieses Terminus. Es handele sich um einen phänomenalen Raum, welcher durch die Bewegung des Leibes in seiner sinnausdeutenden Haltung zur Musik von diesem selbst erschaffen werde13.
Die Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung präzisiert scharf, soweit das in der Sphäre reinen Erlebens angeht, die ästhesiologische Bedingung der Möglichkeit sinnadäquater Gesten zur Musik. Sie ist also im strengsten Sinne die allgemeine Voraussetzung zum Verständnis und zum Ausdruck musikalischer Gehalte, sie ist ganz eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin.14
Der Plessnersche Ansatz zu den Verstehensbedingungen der Musik steht in einem gewissen Widerspruch zu den Verstehensansprüchen die Adorno, welcher in seinen Ausführungen zu Typen musikalischen Verhaltens den idealen Hörer in jenem Menschen erkennt, der die Ordnungsstrukturen des musikalischen Geschehens im Ablauf – während des Erklingens – strukturell mitvollzieht15. Dieser Anspruch geht für Plessner am eigentlich musikalischen Werksinn vorbei. Der adornitische Hörer vergibt sich nach Plessner des Genusses am musikalischen Kunstwerk, denn er ist durch seine mitvollziehende Kenntnisnahme abgelenkt vom eigentlich musikalischen Kunstgeschehen in der Aufführung, dessen Sinngehalte er wohl ergreifend mitvollzieht, jedoch in einer ganz anderen Bewusstseinslage. Der plessnersche Hörer weist die einseitig intellektuelle oder kritische Betrachtung von sich, um sich vom grundsätzlich sinnoffenen – nicht sinnlosen – musikalischen Geschehen der „Sinngefüge“16 führen zu lassen. Dieser trifft in seinem Bewusstsein auf eine spezifische Leere, deren Fülle er wohl in der Musik erahnen, jedoch niemals wirklich dingfest machen kann.
Wenn die These der „Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung die […] Möglichkeit der absoluten Musik und ihrer Ausdeutung im Tanz und Dirigieren“17 erklärt, und damit auf ein Sinngeschehen hinweist, verweist sie damit zugleich auf eine innere Affinität von Laut und Bedeutung. Sie verweist also mithin auf eine innere Beziehung zwischen Laut und Sprache, nicht hinsichtlich der Natur der Sprachzeichen, denn bei diesen darf es diese Beziehung nicht geben, da das Zeichen in seiner sprachlichen Funktion der Konvention dienen können muss. Insoweit jedoch, wie „Sprache Ausdruck von Erregung darstellt, fällt sie […] unter die Herrschaft der thematischen Sinngesetzlichkeit, die ihrer Natur nach wohl eine innere Beziehung zwischen dem Sinn und der Art des Ausdrucks kennt“18. Hier zeige sich die „natürliche Bevorzugung der Laute und Töne als Darstellungsmittel des Sinnes“19. Damit jedoch irgendein Tatbestand Gegenstand sprachlicher Darstellung werden könne, müsse er sich als seelischer Inhalt bemerkbar gemacht haben, und dafür bedürfe es eines Minimums an seelischer Erregung. Er müsse als „Stoff meines Erlebens“20 auftreten können. Auf der anderen Seite jedoch bedürfe das Bewusstsein zugleich der Abstandnahme zu dieser Erregung, damit ein sprachlicher Ausdruck gestaltet werden könne. Es gibt also einen Hiatus, der beide Sphären trennt,