Die naturphilosophische Absicht der Plessnerschen Ästhesiologie lässt sich klar erkennen. Er sucht die Möglichkeitsbedingungen der Natur des menschlichen Erscheinungsbildes der Welt herauszuarbeiten und bestimmt so die Sinnesmodalitäten weder als Künder subjektiver noch absoluter Gegenstände oder Gegebenheiten, sondern als Möglichkeitsformen der Erscheinung von unabhängigen Gegenständen oder Gegebenheiten für ein Bewusstsein, als objektive Formen der Welt für den Menschen, als Formen des menschlichen Milieus der Welt, und also als „elementare Darstellungsweisen der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begreifen.“48
Bewegung, der seelische Untergrund als Basis des Sinns oder die Verschränkung von Sprache und Bewegung
Neben die Sinneskreise des Gesichts und Gehörs tritt als dritter der Kreis der Zustandssinne. […] Diese begründen gegenständliche Sinngehalte, theoretische in der Geometrie, ästhetische in der Musik, jene begründen nichts, sondern haben an sich Sinn in dem Bewusstsein, das sie vermitteln.1
Die Zustandssinne vergegenwärtigten Sein im Erleben. Möglich sei ihnen dies, da der Leib eine zentrale Stellung im Leben der Person einnimmt. Am Körper zeige sich oder bilde sich seelische Wirklichkeit ab, sei es als Reiz, Ausdruck, Reaktion oder eine Aktion, in die sich der Wille ergieße. Zu all dem komme auch noch die Funktion der Sprache, in welcher sich die seelische Wirklichkeit artikuliere. Da diese jedoch nicht auf das Seelische allein beschränkt bleibe, sondern in ihrer präzisierenden Arbeit darüber hinausgreife, Außenwelt wie Ausdruckswelt ebenfalls mit einschließe, ergeben sich „zwei Möglichkeiten der Vergegenwärtigung körperlichen Seins“2. Als Vorstellung, die Dinge allgemein, eigener oder anderer, und als „»Hintergrund« der Seele“3. Nach Plessner bedarf jede geistige Bewegung einer Erregung der Physis. Da die Zustandssinne nun über diesen Hintergrund sowie in der Vorstellung ein körperliches Sein immer mitvermittelten, sei es möglich zu behaupten, dass das leibliche Sein bei jeder seelischen Regung – intellektuell oder affektiv – in jedem Falle einen Anteil an dieser hat.
Ausdruck und Handlung nun bilden die beiden anderen Arten des Verhältnisses von Körper und Geist: Die Gegenwart von Körpern erscheine dem Geist als Ausdruck, und es greife das Gesetz der Thematik4.
Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar, während das künstliche Verfahren jeder Kunst darin besteht, Körper wie: Leinwand, Farbe, Stein zu Ausdrucksfeldern zu machen, mit ihnen Sinn zu verleiblichen.5
Es ist die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welche das Grundschema der Erfahrung von Sinn für den Geist darstelle. Mag der Ausdruck nicht oder noch nicht fassbar oder beschreibbar sein, so geht es um die grundsätzliche Erfahrung der Gegenwart eines im Körperbild gegebenen Sinnes, die prinzipielle Erfahrung von Sinn, von Sinn in der thematischen Schau von Idee und Empfindung. Hier findet sich auch die „theoretische Garantie“6 des Verstehens überhaupt:
Sie betrifft die Möglichkeitsgrundlage der Verleiblichung einer Intention und der sinngemäßen Korrespondenz im Auffassen von Seiten des anderen Menschen. Die Antwort lautet: jene gesuchte Garantie ist die mitvollziehbare Haltung, die wir zwar gegenständlich gebunden wahrnehmen, aber […] auf jeden Fall körpergegenständlichen Bindung freimachen und dadurch in Bewegung umsetzen können.7
Plessner findet diese in der mitvollziehbaren Haltung. Im Körperbild erscheine eine bestimmte Verfassung des Geistes, welche an diesem abgelesen werden könne, und zwar in der Weise, dass es, freigemacht von der Erstarrung des Bildes, innerlich wiederum in Bewegung umgesetzt würde:
In Bewegung umgesetzt, bestimmten sie den seelischen Habitus, Gefühlslage, Affektivität, Willensrichtung, Gedankenbildung und erhalten dadurch ihren seelischen Untergrund, ihre spezielle Motiviertheit, ihren bestimmten Sinn.“8
Nun ist dieser seelische Untergrund nicht der zu verstehende Gegenstand selbst, dieser muss in Form von Sprache als präziser Sinn – metagrammatisch, grammatisch sowie zeichenhaft – weitergegeben werden. Doch der seelische Untergrund bildet allemal die letzte Basis des bis in die Einzelheiten hinein zu verstehenden Gehalts, an dem sich die präzisierende Arbeit der Sprache abzuarbeiten hat, um zu ihrer Präzision zu gelangen. Im Deutschen spiegelt sich dieser Vorgang auch in der Redewendung des „Nachvollziehens“ als Synonym für das Verstehen. Mit dem Ausdruck dies kann ich nicht nachvollziehen äußert man sein Unverständnis. Die Idee der Nachvollziehbarkeit für die Erkennbarkeit zeigt auf einen inneren Bewegungsablauf als Verständnisgrund für das zu Begreifende und für die Verschränkung von Sprache und Bewegung im Vorgang des Verstehens hin. Körperlich gegründet, wird der Verstehensvorgang unmittelbar plastisch und deutlich. Abstraktion bezeichnet dann eine Art des Verständnisses, das sich von jener Art des Verstehens als Nachvollziehbarkeit, der vollständigen innerlichen Kenntnisnahme und Bekanntschaft mit dem Gedanken entfernt hat.
Der Modus des Hörens als Verbindung von Geist und Leib
Die Modalität der Zustandssinne bildet demnach die Grundlage für die Vergegenwärtigung des eigenen leiblichen Seins, und sie ist zugleich die Garantie für die Möglichkeit der mitvollziehbaren Haltung, welche ihrerseits die Möglichkeitsbedingung für das Verstehen anderer ist. Hierin besteht die zentrale Stellung der Zustandssinne im Hinblick auf das Verstehen gegenüber jedem, dessen Kundgabe zum Verständnis aufrufe, sei es eine Person, ein Tier oder selbst eine Landschaft. Geben die Zustandssinne dem Bewusstsein ein sich selbst kund, so bilden sie deshalb die Grundlage für die Erkenntnis einer Kundgabe bzw. das Verständnis Anderer.
Plessner betont, dass jene Garantie mitvollziehbarer Haltung nur in einem einzigen Fall fassbar werde, nämlich „im verstehenden Hören“1. Die Natur des akustischen Materials, welches in seiner Voluminosität und Dauer bzw. Vergänglichkeit seine letzte Verortung im Stimmraum des Körpers besitzt, bildet die Basis für die Akkordanz zur Haltung und somit zum unmittelbaren Verständnis der Musik.
Also ist der Modus des Hörens diejenige Verbindung von Geist und Leib, in welcher Ausdruck als Haltung realisiert werden kann. Oder abstrakter gesagt: im Modus des Gehörs ist jede Sinngebung dem Körperleib möglicherweise gegenwärtig. […] Er ist mithin diejenige Art des Verständnisses von Geist (Einheit der Sinngebung) und Körperleib, in welcher der Geist dem Leibe sich kundgibt, […]“2
Nicht der Körper als Gegenwart, sondern als Mittel ist die dritte Art des Verhältnisses von Körper und Geist. Sie mündet: „in zielgemäß gerichteten Bewegungen der Körper, in Handlungen.“3
Der optische Modus und sein wesentliches Element der Sehstrahl, Urbild der Linie auf etwas hin, schließen ihr nicht wie der akustische Modus den Zustand eines phänomenalen Stoffes auf, sondern ergreife in ihr das Ziel des Handelns. In der Geometrie sieht Plessner die reinste Form seiner Funktion materialisiert. Mit ihrer Hilfe erschließt sich der Mensch den Raum und lernt diesen zu beherrschen. Mittels dieser Fähigkeit unterwerfe er sich die Welt, halte sie im Griff, könne sie berechnend ergreifen. Mittels der Funktion des optischen Modus wende sich der Mensch zu einem Gegenstand des Äußeren als Ziel oder Zweck, sogar jenes Äußeren, welches noch in der Zukunft liege. Durch Berechnung lerne er, es zu bestimmen und zu kontrollieren. Der Körperleib und die Kundgabe seines Zustandes spielten hier eine untergeordnete Rolle. Muss der Mensch dafür Sorge tragen, dass jener in seinem Tun weiterhin funktioniere, also zum Beispiel gesund bleiben, so bleibe er jedoch selbst vom berechnenden Zugriff auf die Welt selbst weitgehend ausgeschlossen, oder nur ein Bestandteil, den es zu bedenken gelte, soll der berechnete Zweck erreicht werden. Daher stamme auch die Abstraktion und Universalität der Wissenschaft. Distanz als dessen Art der Abstraktion bezeichne den Charakter des optischen Modus.
Trotzdem ist die Ästhesiologie genötigt, den optischen Modus geradezu als die Weise der Aktualisierung ferner Mannigfaltigkeit zu fassen […] Der strahlige Bau dieser Modalität läßt jede Mannigfaltigkeit dem Bewusstsein gegenständlich erscheinen.4
Allein selbst jene Gegenständlichkeit bleibe auch noch körperlich erlebbar