Transzendierende Immanenz. Manfred Bös. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred Bös
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302018
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Werk ausmachen werden. Nicht also lässt der Künstler im Werk schlicht Wesenheiten anschaulich werden, sondern „nur die ästhetisch-werthaltigen“20, die ausgewählt werden durch die Führung der „ästhetischen-geistigen Augen unseres Herzens“21. Die Beteiligung unseres Herzens an der Auswahl des ästhetisch Wertvollen deutet schon darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Aufgabe des reinen Geistes oder der Vernunft handelt. Weit davon entfernt, denn schon in der elementaren Anlage des Menschen – der Physiologie seiner Nervenwege – für die natürliche Wahrnehmung spielt die Selektion eine Rolle:

      Unser inneres Gesetz ästhetisch-triebhafter Aufmerksamkeit «wählt» gleichsam (ohne und vor bewusster Wahl) aus den Empfindungsmöglichkeiten diejenigen zur Realisierung der aktuellen Empfindung aus, die Teilelemente «guter» d.h. prägnanter Gestalten sind.22

      Soweit die physiologische Grundlage der ästhetischen Intervention in das Leben der Lebewesen allgemein. Diese bildet jedoch nur den Hintergrund jedes künstlerischen Umganges mit den Materialien, auch den imaginären, welche die Physis dem Menschen bereitstellt. Der Künstler nimmt – im Sinne Schelers Menschbild – gegenüber diesen eine asketische Haltung als Neinsager zur Triebhaftigkeit ein, um erst aus dieser Distanz heraus, sich ihnen wieder zuzuwenden. Dennoch behauptet Scheler in der Kosmosschrift:

      Was im Menschen im eigentlichen Sinne schöpferisch mächtig ist, ist nicht das, was wir «Geist» (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewussten Triebmächte der Seele, und dass die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens und der Gruppe vor allem von der Kontinuität dieser Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate abhängt – wie auch der dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als vielmehr er den Gang der Geschichte weitgehend bestimmt.23

      Scheler lässt hier die an der Kreativität beteiligten Kräfte im Menschen zwischen der Triebaskese des Geistes und dem ekstatischen Wesen des Drangs hin und her gehen und markiert so den Moment, an dem beide Extreme biologisch wie metaphysisch im Menschen vereinigt als „aufeinander hingeordnet“24 betrachtet werden können. Er steht damit in der Nachfolge Nietzsches aus der Geburt der Tragödie, mit dem Unterschied, dass die Kräfte des Apollo und des Dionysios sich nicht im Konflikt begegnen, sondern sich in der teleoklinen Entwicklung der Welt ergänzen. Beide sind es auch, welche dem Menschen strukturellen wie tätigen Anteil an dieser Entwicklung gewähren. Allerdings wird dem Geist abgesprochen Macht zu besitzen. Diese kommt allein den unterbewussten Triebmächten der Seele zu, doch kann der Geist ordnend und lenkend auf diese einwirken, wie wir aus der Dialektik erkennen können, welche Scheler dem Mythos sowohl als Produkt wie als Agens der Geschichte einräumt.

      In der dialektischen Bewegung beider Prinzipien, dem des Geistes und des Dranges, wird der Kunst als darstellender Erkenntnis und Vermittlung von Scheler auch Geschichtsmächtigkeit zugesprochen. Die Leistung des Geistes nach Scheler besteht darin, dass dieser der „ursprünglichen produktiven Einbildungskraft […] durch das Triebleben der Vitalseele“25 angetrieben in kritischer Korrektur und Auslese immer mehr an Reife abgewinnt und dem Menschen so die Möglichkeit eröffnet, der Welt ganz allgemein als Erkennender zu begegnen, ihm andererseits aber auch – indem die noetischen Akte des Geistes in den Dienst der Kunst gestellt werden –, das poietische Schaffen im Dienste künstlerischer Erkenntnis ermöglicht. Der seelische Schauplatz dieser Vorgänge ist das Reich der Phantasie.

      Die Phantasie

      Phantasie definiert Scheler als eine ursprünglich produktive Einbildungskraft1 und „höchste vorstellende Funktion, zu der es die Vitalseele bringt“2, von Trieben angestoßen, vom Geist geleitet. Sie ist ihm als pure Phantasie „eine ideen-wert-wahrheit-falschheit-wissens-täuschungs-blinde Fähigkeit der Vitalseele“3. Schon die natürliche Wahrnehmung besteht für Scheler aus der Dreiheit „Empfindung + Gedächtnis + Phantasie“4. Durch kritische Intervention des Geistes werde die lebendige Phantasie gezügelt und der Mensch lerne nach und nach unter der von ihr bereit gestellten Bilderflut (auch Gefühlsphantasie, Strebensphantasie5) diejenigen auszuwählen, welche ihn zur Beobachtung, die erst das Resultat eines langen Reifungsprozesses sei, führten. Wir treffen hier wieder auf die These der Dissoziation als des eigentlich für die Menschwerdung entscheidenden evolutionären Vorganges. Das evolutionäre Sonderprodukt Mensch weiß grundsätzlich – im Unterschied zum sich immer ekstatisch verhaltenden Tier –, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die „seltsame Fähigkeit“6 des Menschen Gegenstände zu erschaffen, die

      «ficta» heißen und die, obzwar sie kein anderes Sein haben können als jenes daseinsfreie So-sein, das auch – obzwar nicht nur – bewusstseinsimmanent ist und Bewusstseinsimmanentem immer zukommt, sich doch vom Augenblicksbewusstsein, in dem sie zuerst auftauchten, ja sogar von individuellen Bewusstsein loslösen können, dann durch eine Mehrheit von Akten identifizierbar sind, ja sogar von vielen Individuen identisch gehabt werden können. Die Zahl 3, das Dornröschen, der Gott Apollo als kollektives fictum des griechischen Volkes z.B. sind ficta.“7

      Die Phantasie schließe den offenen Raum, der „zwischen «Wesenserkenntnis» und «zufälliger Erfahrung» (Sinneserfahrung) gähnt.“8 Sie sei indifferent gegenüber Wahr und Falsch. Aber nach Scheler kann man mit Hilfe der Vorstellung durchaus „etwas bemerken“9, was in der akuten Wahrnehmung verborgen bliebe. Die Phantasie sei also unter kritischer Anleitung des Geistes der Erkenntnis förderlich. Doch in ihrer Unabhängigkeit gegenüber Wahrheit und Täuschung sei sie das Reich der Freiheit für die Kunst; sie sei das Agens für die Schau der Ideen, worin wie oben erwähnt die Zahl 3 oder das Dornröschen für alle identisch geistig geschaut werden könne. So hält sie für die Kunst die Möglichkeit parat, ihr Material so zu bilden, dass es sowohl als Identisches wie als Vielfältiges betrachtet werden kann. Das künstlerische Werk könne vermittelst ihrer zwischen Einheit und Vielfalt oszillieren, solange es der Künstler vermag, eine wesentlich erkennbare Identität zu stiften. Diese grundsätzliche Ambivalenz des künstlerischen Werkes findet ihre Entsprechung in der Rückbindung bzw. Exemplifizierung der künstlerischen Einsicht in das künstlerische Material, welches per se Vielfalt ist, denn es stammt aus dem bildschaffenden metaphysischen Prinzip des Dranges, der im Grunde nur Chaos10 und keine Ordnung sowie der damit verbunden Möglichkeit der Identität eines Gegenstandes kennt.

      Denkt man sich den Schelerschen übersingulären Geist an der Realisierung der Welt durch den Drang und mit Hilfe des Menschen am Werke der Geschichte, so fragt man sich bei der Vielfalt und Kontingenz der Erfahrungswelt nach den unterschiedlichen Aufgaben, welche die Menschheit als unterschiedenes Ganzes dabei übernehmen kann. Dem schafft Scheler durch eine Analyse nach Kriterien sozialer Konvenienz Abhilfe. Er unterscheidet neben der Masse der Menschen, welche immer anonym dazu verdammt sei zu folgen, nach der Kategorie des „Vorbildes“11 und der Nachahmung die Typen des „Heiligen, der geistigen Werte, des Edlen, des Nützlichen und des Angenehmen“12 und bestimmt sie als Träger apriorischer13 Wertideen. Diese Typen des Menschlichen stehen jedem einzelnen als Vorbilder zur Verfügung und jeder Typ für sich genommen stelle einen möglichen Weg für den Menschen dar, damit er durch die Nachfolge die Enge seines individuellen Bewusstseins überkomme. Die Vorbilder seien ideale Wertgestalten, in die sich die Einzelnen in der Nachfolge hineinbildeten und sich somit entwickelten. Die unterste Stufe der Übergabe der Vorbilder wäre nach Scheler ein „dunkler physischer Vorgang der Vererbung“14, doch die Geschlechtsliebe – nicht der Geschlechtstrieb – besitzt nach ihm eine teleologische Tendenz und führt den Liebenden zum passenden Partner, um die entsprechend passenden Erbwerte in der Nachkommenschaft zu entwickeln. Die Tradition stehe „zwischen Vererbung und verstehender Aufnahme (Belehrung, Erziehung) in der Mitte“15. Im Tradierten vermeine man, das Eigene zu tun und zu erkennen. Es sei die unwillkürliche nicht bewusste Nachahmung, welche die Tradition als Form bestimme. Der dritte Modus der „Vorbildwirksamkeit heißt geistiges Verstehen und darauf fußender «Glaube an» Personen.“16 Erst hier komme ein bewusstes Verwerfen oder Anerkennen der Werte und Akte des Vorbilds ins Spiel und erst auf dieser Stufe könne man von „freier Nachfolge“17 sprechen, als welche das große Vorbild die Nachfolge Christi18 benannt wird.

      Der Künstler schaffe in seinen Werken die Vorbilder für die Nachahmung, wie den Helden im Mythos, und er schaffe damit zugleich auch die Schemata,