Im Grunde war es ihr egal, weswegen er in der Flotte unterwegs gewesen war. Wichtig war, dass er jetzt hier war.
Allerdings könnte er ihr erneut einen Schritt voraus sein und bereits Bescheid wissen, was sie in Sachen Dragatisten plante. Immerhin hieß „privat“ bei Lindawen nichts anderes, als dass es um etwas ging, das seiner Meinung nach strengster Geheimhaltung unterlag. Kurz, es war alles andere als privat. Es ging nur ausschließlich ihn, seine Leute und den Elfenrat etwas an.
Langsam erhob er sich und zog einen Lederbeutel von dem kleinen Tisch gegenüber der Tür. Chara hätte die darauffolgende Stille gerne unterbrochen, aber irgendetwas in ihr genoss es, hier mit dem Mann zu stehen, der mehr als alle anderen über sie wusste, und ihn nur anzusehen. Genau das war es, was Lindawen auszeichnete. Seine Gegenwart versprach wie nichts und niemand sonst Ruhe – im Innen wie im Außen. So wie jetzt. Es war, als hätten sie diesen Augenblick, als hätten sie die Zeit in Besitz genommen.
Lin-da-wen. Da wurde sie ruhig, obwohl alles in ihr auf Hast eingestellt war. Da fühlte sie sich weniger allein, obwohl alles in ihr darauf geeicht war, alleine zu sein und es auch zu genießen. Da wollte sie mehr, obwohl sie gelernt hatte, nichts zu wollen.
Lin-da-wen. Da stand er und stand ihr dabei näher, als es Al’Jebal je könnte – auf seine Art. Denn er war hier.
Der Lichtjäger, der sie liebte, war nicht besonders groß, nur ein paar Fingerbreit größer als sie. Und sein Haar war blond, was ihr kaum gefallen konnte. Von den Schultern abwärts trug er es, warum auch immer, in zehn Zöpfe geflochten. Eine Haartracht, die eines echten Mannes nicht würdig war. Seine Kleidung war eher unauffällig. Hosen, Hemden und Umhänge in Grau- und Grüntönen. Bescheiden, wie Chara fand. Zu bescheiden für das, was er war. Immerhin war er der Oberste Lichtjäger. Nur selten, zu besonderen Anlässen, gestand er es sich zu, Farbe zu bekennen. Dann fand sich auch mal ein gewagter Rotton irgendwo in seinen Klamotten. Ein Pragmatiker, der es verstand, sich ab und an zu amüsieren.
Seinen Besitz trug er nicht zur Schau. Warum auch? Er war ja, wie gesagt, bescheiden. Aber es gab da den einen oder anderen Gegenstand, den er hütete wie sein Augenlicht. Das Buch, die alberne Tunika mit dem goldenen Baum Albions, um nur zwei von ihnen zu nennen … Was er liebte, behütete er.
Seinen Kampfstil kannten nur die wenigsten, weil er selten zu den Waffen griff, und falls doch, dann sah man ihn gewöhnlich nicht dabei. Griff er in einen Kampf ein, dann nur, wenn seine Hilfe unbedingt erforderlich war. Aber wenn er seinen Bogen, seine Messer, seine Axt zum Einsatz brachte, traf er in der Regel auch, und seine Treffer waren zweifelsohne tödlich. Ein Mann des Kalküls und der Treue.
Er konnte kochen, sogar für den Geschmack eines unzivilisierten Gaumens wie ihren. Keine Ahnung, was das über ihn aussagte. Vermutlich, dass er ein Genießer des Augenblicks war, sofern ihn der Augenblick nicht in die Pflicht nahm. Denn die Pflicht ging dem Genuss ganz klar vor.
Er hatte einen ausgeprägten Sinn für klare Gedanken, Pläne und Ziele. Gewöhnlich wusste er genau, was er wollte, warum er es wollte und auf welchem Weg er es erreichte. Wenn er sich selbst oder einem anderen ein Versprechen gab, dann hielt er sich daran, egal was es kostete. Und Gnade jedem, der sich ihm in den Weg stellte oder versuchte, seine Pläne zu vereiteln. Sie legte ihre Hand dafür ins Feuer, dass dieser Jemand tot war, noch ehe er „Obacht!“ schreien konnte.
Er redete nicht viel, genau genommen redete er fast gar nicht. Und wenn doch, dann könnte man die Befürchtung hegen, sein Wortschatz beliefe sich auf nicht mehr als zwei Worte. „Ich weiß“. Mehr hatte er in der Regel nicht zu sagen. Jener Mann, der vor rund elf Monden das Deck der Meerjungfrau betreten hatte. Der Elf, der ihr seit damals so treu zur Seite stand, wie es bislang nur die Stammeskrieger und ihr Bruder getan hatten. Doch während Kerrim im Auftrag Al’Jebals seine schützende Hand über sie hielt und die Stammeskrieger einer Prophezeiung folgten, folgte er ihr, weil er sich dazu entschieden hatte …
Was war sie doch blauäugig!
„Gerade wollte ich dich tadeln, aber glücklicherweise hast du den Fehler auch ohne mich gefunden.“
Was dich hier überflüssig werden lässt. Also mach einen Abgang.
„Tüdeldü!“
Seine äußerlichen Attribute waren beim besten Willen nicht der Grund dafür, dass Chara sich von Lindawen angezogen fühlte. Denn er sah nun mal aus wie ein Elf, und für Elfen hatte sie nie etwas übriggehabt. Schönheit hatte sie noch nie in Erregung versetzt. Was Lindawen zu einer kleinen – ach, was soll’s – einer großen Attraktion für sie machte, war sein unverwechselbarer Stil. Lindawen war, oberflächlich betrachtet, ein waschechter Elf. Innerlich aber schien er das genaue Gegenteil zu sein. Er war jemand, der gut und gerne als menschlicher Assassine hätte durchgehen können.
Alles das war ein Grund dafür, hier mit ihm zu stehen und zu schweigen. Zu fühlen, was sie fühlte, war allerdings schwierig. Sie wollte mehr. Sie wollte einen Schritt nach vorne machen, einen Schritt weitergehen. Sie wollte … eine Garantie. Gerade jetzt, gerade auch deshalb, weil Lomond überraschend wieder aufgetaucht war. Zwei gefährliche Liebschaften waren einfach eine zuviel. Besser, sich festzulegen. Besser, sich ganz und gar auf einen einzulassen und dabei einen klaren Kopf zu behalten.
Als hätte ihr jemand den letzten Funken Verstand aus dem Kopf geprügelt, schob sie sich die Ärmel ihres Hemdes hoch und entblößte die Dornenranken samt Rosen auf ihren Unterarmen. Ihre Fessel … ihre Befreiung.
„Lindawen …“
Er beobachtete sie.
„Ich will, dass es jeder weiß. Sie sollen wissen, dass du zu mir gehörst. Ich will, dass du mein Zeichen trägst.“
Sie ballte die Hände zu Fäusten und hob sie vor ihr Gesicht, als wollte sie ihn schlagen. „Die Dornenranke … ich will sie in deiner Haut sehen.“ Die Dornen wohlgemerkt, nicht die Rosen. Die gehörten ihr allein.
Lindawens Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er wirkte tatsächlich amüsiert. Was, verdammt noch mal, war gerade witzig?
„Dann sind wir schon zwei.“ Er kam zu ihr, öffnete den Beutel und ließ den Inhalt in seine offene Hand fallen. Ein schlichter Silberring und eine silbern schimmernde Kette mit einem Kreuz als Anhänger … Ein runder, türkisfarbener Stein zierte die Mitte des Kreuzes.
Chara wollte den Anhänger berühren, da zog er die Hand zurück.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Meine Art, dir zu zeigen, was ich fühle.“
„Könntest du dich klarer ausdrücken? Darin bist du doch sonst auch unschlagbar.“
Wieder ein Lächeln. „Ich habe den Schmuck selbst geschmiedet.“
Chara spürte das Misstrauen, das zaghaft an den Innenwänden ihres Gehirns kratzte.
„Ist er magisch?“
„Er ist einzigartig.“
Das war keine Antwort, jedenfalls keine richtige. Lindawen blieb also heute mal kryptisch. Chara war’s wiederum ungewohnt egal. Fast war es wie mit ihrem Schwarzen Buch. Damals war das Resultat ihres Vertrauens allerdings ein ziemlich bitteres gewesen. Lindawen hatte alles, sie hatte nichts dafür zurückbekommen. Doch, schon, aber sie hatte nichts davon gewusst und ergo nichts davon gehabt. Sie hatte die Finte hinter dem Kochbuch in Ilf nicht gerochen, und er hatte gewusst, dass sie das nicht würde. Damit blieben seine Geheimnisse eben genau das, geheim. Während ihr innerstes Selbst, bislang so akribisch behütet wie das Schwarze Auge Al’Jebals im tiefsten Keller Tamangs, an Lindawen ging … Einen Elfen.
„Wirst du dir die Dornenranke in die Haut stechen lassen?“
„Ja.“
Sie griff nach dem Schmuck.
„Chara?“, hielt er sie zurück.
„Ja?“