Es folgte ein kühler Wortwechsel zwischen dem Magus, Chara Pasiphae-Opoulos und Ragna MacGythrun. Am Ende war Ahrsa Kasai mit dem Vorschlag, den Feind aufzuspüren, einverstanden. Warum er das war, leuchtete zumindest Irwin MacOsborn nicht ein.
Enttäuscht umfing er seine Brust mit den Armen und wippte vor und zurück. Wodurch er sich vielleicht auch besser gefühlt hätte, wäre ihm nicht der Gedanke gekommen, dass das kindisch aussehen könnte. Also erhob er sich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf – einer sehr beachtlichen Größe, wie jeder der Anwesenden hätte bezeugen können, diese es aber schlicht und ergreifend unterließen, ihn eines Blickes zu würdigen.
„MacOsborn!“
Irwin wirbelte herum. „Ja, Frau Flottenoberkommandantin?“
„Leichtes Gepäck.“
„Wofür?“
„Die Wüste.“
Irwin biss sich auf die Unterlippe. „Ich komme also mit?“, fragte er leise.
„Ihr habt doch Siralen gehört.“
„Schon, aber …“
Die Flok schenkte ihm ein Lächeln, dessen Strahlen der Sonne Rawindras Konkurrenz gemacht hätte. Wenn es denn nicht so verdammt zynisch gewesen wäre …
„Der Tod schreibt die größten aller Epen, ist es nicht so, MacOsborn?“
Die Bürde des Kommandanten
Wenn Dunkel und Licht einander berühren, gibt es keine Synthese. Wenn das Licht das Dunkel berührt, gibt es keine Einheit. Wo der Tag der Nacht begegnet, sehen wir nichts, erkennen wir nichts, verstehen wir nichts. Wir sehen nichts, weil dort nichts ist. Wir erkennen nichts, weil dort die Antinomie herrscht. Wir verstehen nichts, weil das Paradoxon den Verstand verschlingt.
Der Tag verdrängt die Nacht, die Nacht verdrängt den Tag. Wenn Licht und Dunkel einander berühren, gibt es nur ein Entweder-Oder. Dann ist es hell oder es ist dunkel. Entweder gewinnt das Licht oder es gewinnt das Dunkel, aber niemals gewinnt beides.
(Aus den privaten Aufzeichnungen von Chara Pasiphae-Opoulos, 349 nGF)
Chara saß auf ihrer Lagerstatt im Kommandozelt und wog die schwarze Rose in ihrer Hand. Sie hatte das Gewicht einer gewöhnlichen Rose, sah aus wie eine gewöhnliche Rose, blühte wie Rosen eben so blühten. Nur, sie verblühte nicht, und ihr Geruch war einzigartig – herber als das Aroma üblicher Rosen. Und es war keine gewöhnliche Rose. Es war ein Geschenk Al’Jebals. Es war wie das Wort des Namais, dem sie heute noch genauso folgte, wie es die einstige Hatschmaschin getan hatte. Kehre zu mir zurück …
Es war so offensichtlich, dass selbst eine Blindgängerin wie sie es nicht übersehen konnte: Al’Jebal kontrollierte sie noch immer. Und er kontrollierte sie bewusst. Er gab ihr, was sie brauchte, um sein Wort zum Alpha und Omega zu erheben, wie es in ihrer einstigen Heimat Chryseia hieß.
Und doch, der Meister war verletzbar. Sie hatte die Narbe an seinem Hals gesehen. Sie hatte gesehen, dass selbst der Alte vom Berg fehlbar war. Aber wollte sie es glauben? Was wäre, wenn es niemanden gäbe, der es besser wusste als der Rest? Was wäre, wenn niemand wusste, was es wirklich mit dieser Welt auf sich hatte? Ob sie gerettet werden musste, ob das überhaupt möglich war? Oder ob es nicht besser wäre, sie zu vernichten …
Al’Jebal war nicht hier, um ihr Antworten zu geben. Und vielleicht hatte er auch keine. Fakt war, dass sie auf sich gestellt war.
Chara hob die Rose an ihre Nase und sog den seltsamen Duft ein. Dann steckte sie Al’Jebals Geschenk in die wasserdichte Lederrolle und schob sie in ihren Rucksack.
Nicht ganz. Sie hatte Kerrim, und sie hatte Lindawen. Aber selbst wenn die beiden hinter ihr standen, hatte ihr keiner von ihnen je einen Rat erteilt. Und auch wenn Lindawen jene drei Worte gesagt hatte, die sie nie über die Lippen würde bringen können, stand er im Abseits. So jedenfalls fühlte es sich an. Vielleicht sah er das anders. In letzter Zeit taten sie sich etwas schwer damit, miteinander zu reden. Oder sich auch nur nahe zu sein. Wieso, wusste Chara ebensowenig wie eine Antwort auf die Frage, was genau sie hier eigentlich sollte. Überhaupt gab es viel zu viele Fragen und viel zu wenig Antworten. Aber immer mehr setzte sich zumindest ein Gedanke durch. Er weckte sie morgens auf, wenn sie wider Erwarten doch noch eingeschlafen war, und er ließ sie nachts entspannt die Augen schließen, auch wenn der Schlaf sich trotzdem fernhielt. Der Gedanke war heilsam. Der Gedanke war das Steuer, das sie durch jede Ungewissheit, jede Verwirrung führte, weil sie es in der Hand hatte. Unabhängig von allen Akteuren, die sonst noch in dieses Spiel verwickelt waren …
Alles, was hier oder in Amalea passierte, alles hatte eine zugrundeliegende Ursache. Manche nannten diese Ursache Wahrheit.
Es gibt eine Wahrheit, die zum Wegweiser werden kann. Und diese Wahrheit konnte man suchen und finden.
Siralen ließ die Stirn auf ihre über dem offenen Tagebuch gefalteten Hände sinken und schloss die Augen. Tauron Hagegard liebt Siralen Befendiku Issirimen. Es kam noch besser: Tauron Hagegard, Menschensohn und Piratenadmiral, wollte Siralen Befendiku Issirimen aus dem Geschlecht der Elfen, Tochter eines Verräters am eigenen Volk, zur Frau nehmen. Ein Pirat, der für seine launenhaften Affären bekannt und bewundert wurde, wollte sich für sein restliches, zweifelsohne kurzes Leben an nur eine Frau binden. Und diese Frau war sie.
Gleich, welche Gefahren dort draußen lauerten, gleich, wie sehr ihr die Verantwortung zusetzte, die sie auf sich geladen hatte, oder wie viel der Entbehrung sie alle, die sie hier einer schier unmöglichen Mission folgten, ertragen mussten, der Alleine hatte sie mit einem Wunder gesegnet. Tauron würde sie heiraten. Es würde eine Hochzeit werden, die Menschen- und Elfenherzen gleichermaßen erstrahlen ließe. Ja, wenn es nach ihr ginge, sollten auch die Zwerge ihre Freude daran haben. Und wie sie ihren zukünftigen Mann kannte, teilte er ihre Meinung. Tauron machte keinen Hehl daraus, dass es ihm völlig einerlei war, ob Elf, Zwerg, Kentaur, Fee oder Vogelmensch … ob Wirtsfrau, Kriegsveteran, König, Bootsmann oder Meisterdieb …, wenn er oder sie das Herz nur am rechten Fleck hatte.
Langsam kam Siralen auf die Beine, schloss das Tagebuch auf der Truhe, vor der sie gehockt hatte, blickte sich im Zelt um und stellte fest, dass sie ihren Leinensack für die Rückkehr auf die Meerjungfrau bereits gepackt hatte. Sie würden erst in ein paar Tagen ihren Gang in die Wüste antreten, dann, wenn der Brückenkopf fertig ausgebaut und weitere Truppen angelandet waren.
Ihre Hand glitt zu ihrem Hals und ertastete die Kette mit dem in Silberranken eingefassten Samenkorn. Für einen nichtigen Moment schloss sie die Augen. Sie sah sich mit Tauron am Bug des Kommandoschiffs stehen, während die anderen Besatzungsmitglieder grölend den Jahreswechsel feierten, und vernahm die Worte, die das Eis in ihrem Herzen zum Schmelzen gebracht hatten: „Es ist ein Symbol für die aufkeimende Bindung zwischen uns.“
Schön und gut, jetzt mussten sie erstmal die Verbündetensuche vorantreiben. Tauron hatte ebenso alle Hände voll zu tun wie sie und Chara. Schon die logistische Herausforderung, alle Teilflotten der Reihe nach in Küstennähe vor Anker gehen zu lassen, sodass alle Schiffe aufgerüstet und mit dem spärlich vorhandenen Wasser versorgt werden konnten, war Auftrag genug. Dazu kamen all die ungelösten Probleme. Die Angriffe der Schwarzen Schiffe, die laufende Bedrohung durch die noch unbekannten Verräter von Chaosbündnisseite, das Auftauchen der Dragatisten, Lask Cisch und seine schmutzigen Manifeste, die auch jetzt noch für Unruhen im Flottenverband sorgten …
Der Landgang war wie die Rettung aus der Isolation, in die sie der endlose Ozean gezwungen hatte. Der Wermutstropfen? Wüste! Totes Land. Aber wie Siralen es bereits gesagt hatte: „Es mag eine Wüste sein, aber wir werden Leben in ihr finden.“
Amieprain! Sie hatten es gefunden. Mochte es auch tödlich sein. Nichts, das den Tod bringt, ist gefeit vor der Sehnsucht nach dem Leben.
Siralen hob den Kopf und entspannte ihre Schultern. Tauron hatte sie mit seiner fraglosen Liebe wiederbelebt. Und nun empfand sie selbst nichts als Liebe. Mochte sie der Alleine davor bewahren, dass ihre Liebe wie jene des Vaters Tote forderte.
Mit einem leisen