Irwin presste die Lippen aufeinander. In – die – Wüste – gehen! Zur Kontaktaufnahme mit den fremden Bewohnern dieses trostlosen Landstrichs, bei denen es sich vermutlich um exakt solche Kreaturen handelte, die in der Prophezeiung der Schamanin blutrünstig mordend aus dem Sand krochen. Man stelle sich das vor! Jemand wollte einfach jegliche Vorsicht fahren lassen und der Küste mit den rettenden Schiffen den Rücken kehren, nur um mit diesen Kreaturen in der Wüste ein Schwätzchen zu halten, wenn sie in diesem endlosen Sand überhaupt zu finden waren. Ganz abgesehen davon, dass sie des Sprechens wahrscheinlich gar nicht mächtig waren. Jemand kümmerte es schlicht und ergreifend nicht, dass eben diese Kreaturen ihnen in der vergangenen Nacht so unheimlich zugesetzt hatten, dass es Tote gab, oder doch zumindest Vermisste. So genau hatte Irwin es nicht mitbekommen. Und wer war dieser Jemand? Ja, selbstverständlich die dunkle Seite des Kommandos, der Dämon, den alle nur Sandkorn nannten.
Chara Pasiphae-Opoulos war wieder einmal zur Höchstform aufgelaufen. Doch Xan zum Dank wollte kaum jemand etwas von ihrem selbstmörderischen Vorschlag wissen, am allerwenigsten Siralen. Die wollte warten, bis diese unheimlichen Wesen zu ihnen ins Lager gekrochen kamen, um das Gespräch zu suchen. Das würde freilich nicht passieren. Wieso auch? Die Kreaturen konnten sich einfach damit begnügen, die Fremden, die ohne zu fragen Fuß auf ihren götterverlassenen Kontinent gesetzt hatten, Mann für Mann verschwinden zu lassen. Die rostroten Flecken, die in regelmäßigen Abständen den Sand zwischen den Zelten dunkel färbten, legten Zeugnis darüber ab, dass sie es bereits erfolgreich getan hatten. Sie waren alle dem Tode geweiht. Ja, alle! Sie alle hatten keinen Plan, wie sie gegen die Schatten aus der Wüste ankommen sollten.
Irwin rammte verzweifelt seine Sandale in die trockene Erde und eine kleine Staubwolke stieß ihm ins Gesicht. Ein klägliches Husten später kehrte er zu seiner Feldforschung zurück.
Die Flottenoberkommandantin wandte der Elfenkommandantin gerade den Rücken zu und entlockte ihren beiden tätowierten Affen von den Hula-Hula-Inseln ein warnendes Knurren. Es stand Chara Pasiphae-Opoulos so sehr ins Gesicht geschrieben, dass er es fast hören konnte: Ich will in diese verfluchte Wüste! Das wollte sie wirklich. Zu warten war ja nicht gerade ihre Stärke. Und meistens bekam die Flok, was sie wollte. Das hatte sie während der Reise über den endlosen Ozean bewiesen. Sie hatte es am Großen Abgrund bewiesen, als sie, allen Kommandanten zum Trotz, den Befehl gegeben hatte, sämtliche Schiffe der tausend Schiff großen Armada über der Götter Grenze zu schicken.
So gesehen … Beim Gedanken daran, was ihm sonst noch alles blühen konnte, saß es sich plötzlich ganz gut in der Hitze auf dem staubigen Wüstenboden. Ja herrlich, hier zu sitzen und zu schwitzen wie ein von den Göttern ausgekotzter Bettler am Bordstein vor dem prächtigen Bordello Casa Del Gioie in Tremona, nur um darauf zu warten, dass der Tod höchstselbst zu Besuch kam. Von niemandem gesehen, von niemandem gehört, ganz sich selbst, der Hitze und den Dämonen der Wüste überantwortet.
Ein letztes Mal ließ Irwin seinen Blick über die Palisaden gleiten. An der Fahnenstange neben dem Tor flatterte das Wappen der Allianz im verderblichen Wüstenwind –der Letter A im Kreis der kleinen Lilien, die für die verbündeten Völker der alliierten Streitkräfte standen. Dasselbe Banner hatte die Flok vor wenigen Tagen in eine der zahllosen Sanddünen gerammt. Die Botschaft – still, und doch für alle vernehmbar: Wir sind hier! Ab heute ist dieses Land Besitz der Allianz. „Ich gebe ihm den Namen El’Chan!“
Irwin kämpfte sich auf die Füße und schleppte sich durch den Sand auf das Sonnensegel zu, das am Ufer des Baches eigens für die Besprechung aufgespannt worden war. Dort stand die Flok mit den anderen Würdenträgern der Allianzflotte zusammen, um über Irwin MacOsborns Schicksal zu entscheiden. Unter dem bleichen Sonnensegel zeichnete sich in schmerzhafter Präzision ihre schwarze Silhouette ab. Und hätte er sich nicht längst an den Anblick der derben Gestalt mit dem Gesicht einer Todesgöttin und an ihre beiden stabkeulenschwingenden, von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln tätowierten Leibwachen gewöhnt, er hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht.
„Unser Auftrag ist klar und unsere Zeit begrenzt.“ Die Flottenoberkommandantin trat zurück, und ihre Gestalt verschwand im Schatten der beiden Dad Siki Na, die starren Blicks alle Anwesenden taxierten. „Wir müssen kampftaugliche Einwohner finden und sie als Verbündete zurück in unsere Heimat bringen. Wir haben sie gefunden. Holen wir sie uns.“
Irwin war gerade unter das Sonnensegel getreten und suchte nach einem Stuhl oder einer Kiste oder irgendetwas anderem, auf das er sich bedenkenlos setzen konnte. Als er eine stabil aussehende Truhe erspäht hatte, ließ er sich seufzend nieder und spähte zu Siralen Befendiku Issirimen.
„Wer sagt, dass es sich bei den Bewohnern dieses Kontinents um intelligente Wesen handelt, die, abgesehen vom Jagen und Erlegen ihrer Beute, auch in der Lage sind, Gespräche zu führen und politische Entscheidungen zu treffen?“, bemerkte die Elfenkommandantin.
„Wissen wir nicht“, erwiderte Chara und beförderte eine Pfeife aus ihrer Gürteltasche. „Nehmen wir aber angesichts dessen, was uns der Großkönig der Fischmenschen gesagt hat, an.“
„Er sprach von primitiven Lebensformen im Süden“, gab Siralen zu bedenken, und Irwin hätte ihr fast recht gegeben.
„Primitiv aber intelligent …“
„… und in Anbetracht dessen, welche Spuren sie hinterlassen haben, sollten wir tatsächlich mehr als gewarnt sein.“ Die Elfenkommandantin schüttelte den Kopf, und eine ihrer kinnlangen Silbersträhnen fiel ihr über die Augen. Unter dem Silbervorhang suchte ihr Blick den Blick des Brigadiers Ragna MacGythrun, der bisher keinen Laut gegeben hatte. Das änderte sich auch jetzt nicht.
„Brigadier MacGythrun, könntet Ihr Euren Bericht für die Flottenoberkommandantin noch einmal wiederholen? Über die Angriffe auf unseren Stützpunkt vorletzte Nacht.“
„Ich kenne den Bericht“, erwiderte Chara.
Siralen ließ sich davon nicht beirren. „Würdet Ihr, Brigadier?“
Ragna MacGythrun stieß den Atem aus, was ein wenig genervt klang, wie Irwin fand. „Wie Ihr befehlt, Kommandantin. Nachdem die Soldaten, Späher, Heiler, Zauberkundigen und Handwerker aus Flotte Drei und Vier dem Landeprotokoll entsprechend ausgebootet worden waren, begannen sie umgehend mit der Sicherung des Gebiets und dem Bau zweier Brückenköpfe. Wie vom Expeditionskommando verordnet, wurden die Wehranlagen nicht auf bloßem Sand errichtet …“
„Saadira Haalands Vision, in der die Wesen aus dem Sand gekrochen kamen“, unterbrach Siralen, und Chara durchforstete mit den Blicken ihr Gesicht.
„…, sondern auf festem Boden. Dennoch kam es bereits in der ersten Nacht zu einem feindlichen Übergriff. Der Feind drang an dem noch unvollendeten Abschnitt der Befestigungsanlage Eins ein und griff an. Bei Sonnenaufgang war alles vorbei. Sämtliche Lagerinsassen waren verschwunden.“ MacGythruns Mundwinkel zuckte nach unten. „Keine Leichen … sie waren einfach wie vom Erdboden verschluckt. 268 Mann!“
„Den Rest der Geschichte kennen wir“, nahm die Flok den Faden auf.
Die Elfe lächelte halbherzig. „Richtig. Die Spurensuche brachte ernüchternde Ergebnisse und deine Leute haben uns diese in aller Klarheit dargelegt, Chara. Könntest du sie trotzdem wiederholen? Nur, damit wir uns noch einmal ins Bewusstsein rufen, was uns erwarten könnte, wenn wir den Schutz des Brückenkopfs aufgeben und in die Wüste ziehen.“
Chara nahm einen tiefen Lungenzug und sah Siralen direkt in die Augen. „Sicher kann ich das“, bemerkte sie einen Deut zu schneidend. „Die Untersuchung der Assassinen ergab, dass die verschwundenen Lagerinsassen aller Wahrscheinlichkeit nach verschleppt wurden. Darauf weisen die zum Teil tiefen Abdrücke im Sand beim Abzug der noch unbekannten Angreifer hin. Demnach waren die Wesen nach Beendigung ihres Angriffs schwerer beladen als bei ihrem Eindringen ins Lager. Sie dürften außerdem unterschiedlicher Größe und weitestgehend paarweise unterwegs gewesen sein, was ebenfalls an den Spuren abzulesen war. Der Angriff auf das Lager verlief von zwei Seiten aus – an eben jenen Stellen des Schutzwalls, die noch nicht fertiggestellt