Auf die Fragwürdigkeit solcher Anliegen hat die politische Philosophin Clare Chambers in ihrem ausgezeichneten Buch Against Marriage, An Egalitarian Defence of the Marriage-Free State unlängst aufmerksam gemacht.2 Sie kritisiert die staatlichen Eingriffe in die Gestaltung interpersoneller Beziehungen grundsätzlich. In der Folge entstünde ein Heiratsregime, das bestimmte Rechte und Pflichten lediglich aufgrund des ehelichen Status vergibt. Dies ignoriere die Tatsache, dass alle Formen der Beziehungspraxis per se Vulnerabilität generieren, die unabhängig vom staatlich sanktionierten Ja-Wort Rechtssicherheiten erfordern.
Auf den Privilegcharakter der Ehe und die damit verbundenen Machtstrukturen in der Gegenwart hat auch die Sozialwissenschaftlerin Melinda Cooper aufmerksam gemacht. In ihrem Buch Family Values, Between Neoliberalism and the New Social Conservativism hat sie auf die unheilige Allianz zwischen (amerikanischem) Sozialkonservativismus und Neoliberalismus in Bezug auf die Ehe hingewiesen. Diese Verbindung entstand ihr zufolge ab den 1960er Jahren allmählich aus Abgrenzung gegen die Befreiungsbewegungen („liberation movement“). Ziel dieser Bewegung war es, den vor allem finanziellen Schutz vor verschiedenen Risiken und die Vorsorge von der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung sowie die Aspekte der Sozialversicherung von sexuellen Normierungen zu befreien.3 Dagegen hätten in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika die meisten Wohlfahrtsreformen der neoliberal-sozialkonservativen Allianz vor allem auf die Förderung von Ehen („marriage promotion“) und Bildung verantwortungsvoller Familienstrukturen („responsible family formation“) fokussiert.4 Darin erkennt die Autorin keinen Zufall: Auf der einen Seite sehen Sozialkonservative die Familie permanent durch gesellschaftlichen Zerfall – identifiziert zum Beispiel mit zunehmender Promiskuität – bedroht und wittern darin den Niedergang der traditionellen Gesellschaftsordnung, die es durch Heiratsförderung zu bewahren gilt. Auf der anderen Seite erachten Vertreter des Neoliberalismus die Familie als eine valable und kostengünstige Alternative zum Wohlfahrtsstaat, die es zu stärken gilt. Denn durch diese private Alternative als erstes wirtschaftliches Auffangnetz („primary source of economic security“) können in neoliberaler Auffassung Sozialkosten für den Staat und somit den Steuerzahler reduziert werden. Sie werden zum einen zumindest teilweise an die Familie zurückdelegiert.5 Als Beispiel könnte man hier die Sorgearbeit um Pflegebedürftige nennen, die in der Familie geleistet wird und daher nicht von der öffentlichen Hand bezahlt werden muss. Zum anderen soll die Entstehung von bestimmten Sozialkosten, zum Beispiel durch ungeschützten Geschlechtsverkehr, durch die Förderung der Eheschließung vermieden werden. So waren es gerade neoliberale Vordenker, die in Zusammenhang mit der HIV-Problematik der 1980er und 1990er Jahre, gleichgeschlechtliche Ehen befördern wollten.6 In diesem Lager der Allianz dienen also staatliche Maßnahmen, die gewöhnlich von liberaler Seite als Eingriffe in die individuelle Freiheit verurteilt werden, der Förderung spezifischer familiärer, geschlechtlicher und sexueller Normen, die den Staat und somit die Steuerzahlenden von Sozialausgaben befreien beziehungsweise entlasten sollen. Diese politische Entwicklung der Familie kann selbstverständlich nicht losgelöst von Formen der geschlechtlichen und sexuellen Normierung und somit von herrschenden Machtstrukturen in diesen und anderen Bereichen betrachtet werden.7
Vor diesem Hintergrund lässt die – aus politischen Motiven durchaus verständliche – Forderung nach der Ehe für alle aufhorchen. Denn sie wirft die Frage auf, ob mit der Erfüllung dieser Forderung tatsächlich universelles Recht durchgesetzt würde oder aber „the real issue: the persistence of disparities of power within marriage“ verschleiert würde und andere Beziehungsformen von sozialen und vorsorgerischen Sicherheiten ausgeschlossen würden.8 Der französische Intellektuelle Michel Foucault, der sich zeitlebens mit der Geschichtlichkeit von Machtbeziehungen auseinandersetzte, gab 1981 in einem Gespräch, das unter dem vielsagenden Titel Der gesellschaftliche Triumph der sexuellen Lust aufgezeichnet wurde, so auch zu bedenken:
„[W]enn die Menschen die Ehe kopieren müssen, damit ihre persönliche Beziehung anerkannt wird, ist das nur ein kleiner Fortschritt. Die Institutionen haben unsere Beziehungswelt beträchtlich verarmen lassen. Die Gesellschaft und die Institutionen, die deren Gerüst bilden, haben das Spektrum möglicher Beziehungen eingeschränkt, weil eine an Beziehungen reiche Welt sich nur schwer verwalten ließe. Gegen diese Verarmung des Beziehungsgeflechts müssen wir uns wehren. […] Statt darauf zu pochen, dass der Einzelne natürliche Grundrechte besitzt, sollten wir neue rechtliche Beziehungen erfinden und herstellen, die es gestatten, dass alle erdenklichen Beziehungen bestehen können und nicht von den die Beziehungswelt verarmenden Institutionen behindert oder blockiert werden.“9
Die Diskussion in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz und die erwähnte historische Dekonstruktion werfen bei Historiker*innen die Fragen auf, was eine Ehe im jeweils global eingebetteten zeitgenössischen Verständnis und lokalen Kontext konstituiert und wie sie von Gesellschaft und Regierung verwaltetet wird, nach welchen Prinzipien sie also die Gesellschaft ordnet. Das heißt, wie und zwischen wem wird wo eine legitime, also anerkannte, Ehe geschlossen? Wer wird zur Ehe aufgrund welcher Kriterien zugelassen und wer wird von ihr abgehalten und somit von Privilegien ausgeschlossen? An der Klärung dieser Fragen werden zentrale Machtbeziehungen und Ordnungsmechanismen, die in einer konkreten Gesellschaft wirken, sicht- und damit hinterfragbar. An diesem kritischen Prozess – und an einer Vervielfältigung der möglichen Beziehungsformen und deren gesellschaftlicher Akzeptanz – möchte sich die vorliegende Publikation beteiligen.
2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess
Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive stand bei der Verhandlung der zuvor erwähnten Fragen für die daran beteiligten Menschen, Gemeinschaften und Institutionen lange Zeit nicht weniger auf dem Spiel als die Herstellung und Verwaltung des einzigen legalen beziehungsweise ‚reinen‘ und privilegierten Ausgangspunkts für Paarbeziehungen, Sexualität und Fortpflanzung, Familie, Haushalt und Verwandtschaftsnetzwerke. Mit dem bevorzugten Stand der Ehe verband sich somit ein beachtlicher Teil der sozialen Ordnung. Diese Umstände kamen erst in den letzten beiden Jahrhunderten allmählich in Bewegung – und dies geschah nicht plötzlich, sondern erst allmählich, wobei die Ursachen dafür in der Geschichtswissenschaft nach wie vor umstritten sind.1 Mit dem Zentralereignis der Eheschließung waren so weitreichende Folgen verbunden, dass deren existenzielle Tragweite im Zusammenleben der historischen Subjekte kaum unterschätzt werden kann.2 Dies galt zumindest seit der Reformation in protestantischen Gebieten, weil es hier keine alternativen, zölibatären Lebenswege in geistlichen Diensten mehr gab.3 Die Heirat stellte in einer agrarischen Gesellschaft, die von Ressourcenknappheit und stark eingeschränkten Nahrungsspielräumen bestimmt war, den Schlüssel zu ökonomischen Vorteilen und rechtlicher Besserstellung schlechthin dar. Über die Ehe wurde Besitz zwischen Familien bewegt und zusammengeführt. Der Geburtsstand der Kinder, der weitreichende Folgen für ihre soziale Stellung und Erbfähigkeit hatte, war vom matrimonialen Status der Eltern abhängig.4 Die Eheschließung ermöglichte haushaltsökonomische Partnerschaft und stiftete dadurch immaterielle Solidarität, wirtschaftliche Sicherheit und Vorsorge in Zeiten von Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie im Alter.5 Erst durch sie wurden spezifische Gefühle zulässig und möglich, die außerhalb der Ehe nicht für legitim erachtet wurden oder nicht zu realisieren waren. In ihr wurde die Sexualität für ‚rein‘ erachtet, während diese außerhalb des Ehebetts stigmatisiert und illegal war.6 Die Ehe war somit ein entscheidender Bezugspunkt frühneuzeitlicher Ehrvorstellungen. Die Eheschließung stellte für die längste Dauer der Neuzeit „eine ‚totale Tatsache‘“ im Leben historischer AkteurInnen dar, deren Realisation für die historischen Subjekte mit „Überlebenswille“ zu tun hatte, weil sie teilweise ihre grundlegendsten „Überlebensmöglichkeiten“ determinierte.7 Eine Eheschließung formte die Zukunftsaussichten von Individuen und Gemeinschaften umfassend und historisch stets in geschlechtsspezifischer Weise.8 Das beurteilen nicht nur Historiker*innen der Gegenwart so. Das sahen auch die zeitgenössischen Subjekte ähnlich, wenn sie beispielsweise formulierten, dass die Eheschließung „der wichtigste [Schritt]“ im Leben junger Menschen war.9 Folglich „begehrten“ die meisten Menschen