»Geben Sie mir die Schuld für ihr makabres Verhalten?«
»Es ist nicht makaber! Sie interessiert sich für Ihre Arbeit und, wenn ich das sagen darf, Sir, für die Medizinstudien ihrer Mutter. Beides hat sie zu einer einzigartigen Leidenschaft vereint, was man von den meisten jungen Menschen nicht behaupten kann. Wussten Sie mit zwölf, dass Sie einmal Anwalt werden wollen?«
Ich hörte einen dumpfen Knall, als Vater sich schwer in seinen Bürostuhl fallen ließ. »Ich wusste nicht einmal mit dreißig genau, ob ich wirklich Anwalt werden möchte«, gab er zu. »Doch Mädchen in Myrtles Alter sollten sticken, auf Ponys reiten und sich den Kopf über Kleider zerbrechen – nicht über tote Nachbarinnen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie dem umgehend einen Riegel vorschieben.«
Ich stellte mir vor, wie Miss Judson ihn mit ihrem stahlharten, unnachgiebigen Blick bedachte, und hielt den Atem an, während ich ihre Reaktion abwartete. Doch die Stille in Vaters Arbeitszimmer war so kalt und greifbar geworden, dass sie in den Ohren schmerzte. Warum ließ sie sich so viel Zeit?
»Nun, Sir, was immer Sie für das Beste halten. Selbstverständlich«, sagte Miss Judson schließlich. Was hatte das zu bedeuten? Ich hörte, wie Vaters Stuhl zurückgeschoben wurde.
»Miss Judson, morgen früh möchte ich einen überarbeiteten Stundenplan für Myrtle auf meinem Schreibtisch haben, ebenso wie Maßnahmen, damit sie mehr Zeit mit Mädchen ihres Alters verbringt. Herrje, das Leben besteht aus mehr als Kriminologie! Höchste Zeit, dass sie das lernt.«
Der nächste Morgen war fahl und verregnet, ein düsteres Nieseln vernichtete alle Beweise, die im Liliengarten noch übrig waren. Redgraves war regelrecht abgeriegelt und die Hausgemeinschaft, die verblieben war, regte sich nicht. Selbst von Peony, die sicherlich fror und hungerte, gab es keine Spur. Unruhig und unzufrieden tigerte ich vor dem Fenster auf und ab.
Da schwang die Tür zum Unterrichtsraum auf und offenbarte Miss Judson mit einem Frühstückstablett. »Bitte«, verkündete sie, als sie mein Tablet ohne Umschweife auf dem Tisch abstellte. »Die Zeitung von heute Morgen. Möge sie diesem Mord-Trara ein Ende machen.«
Eilig schnappte ich mir den Swinburne Boten.
»Eigentlich sollte ich darauf bestehen, dass du zuerst etwas isst«, sagte sie. Frühstück im Unterrichtsraum konnte nur bedeuten, dass ich noch immer in Schwierigkeiten steckte. Da mir die Standpauke, die Vater Miss Judson gehalten hatte, noch allzu deutlich in den Ohren nachhallte, nahm ich gehorsam ein Stück Toast und setzte mich an mein Pult.
Gestärkt von Toast und Tee, lasen wir gemeinsam die Zeitung. Auf der ersten Seite gab es gar nichts Interessantes (zum Glück auch nicht Störung bei hiesigem Mordprozess: Staatsanwalt blamiert), daher blätterten wir zu den Nachrufen. Und dort stießen wir auf einige wenige Zeilen über Minerva Faye Wodehouse, 79, Swinburne, die:
… Mittwochmorgen in ihrem Heim eines natürlichen Todes starb und eine Nichte, Miss Priscilla Wodehouse, Boston, sowie einen Neffen, Mr Giles Northcutt, Swinburne, hinterlässt. Die Beisetzung findet im engsten Kreis am Samstag, 5. August, in der Kapelle St. Agnes statt. Beileidsbekundungen können an den Familiensitz, Gravesend Close 16, geschickt werden. Von Blumengrüßen wird gebeten, Abstand zu nehmen.
»Das ist alles?« Miss Judson klang traurig. »Keine Blumen?«
»Natürlicher Tod? So ein Blödsinn!«
»Hier steht nicht einmal etwas über ihren Garten oder ihr Leben. Genauso gut hätten sie schreiben können: ›Weitere Junggesellin einsam verstorben. Gähn.‹«
»Miss! Bitte konzentrieren Sie sich aufs Wesentliche! Sie werden sie beerdigen«, sagte ich. »Wir müssen etwas unternehmen, bevor es zu spät ist.«
»Was genau schwebt dir denn vor?«
»Beweisen, dass es Mord war, natürlich!« Frustriert wedelte ich mit meinem Toast in der Luft herum und verteilte in hohem Bogen Krümel.
Miss Judson studierte noch immer mit schmalen Lippen die Todesanzeige. »Ich fürchte, wir brauchen etwas Überzeugenderes als die Verdächtigungen einer Zwölfjährigen und ihrer Gouvernante«, sagte sie endlich.
»Dann glauben Sie mir?«
Sie schaute mir fest in die Augen. Ich kam zu dem Schluss, dass sie sich in diesem Moment noch einmal das Gespräch mit Vater vom Abend zuvor durch den Kopf gehen ließ, von dem ich offiziell ja nichts wusste. »Immer.«
Ich atmete auf. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte ich. »Als Erstes müssen wir den Bericht des Gerichtsmediziners in die Finger bekommen. Ohne kann der Leichenbeschauer keinen Totenschein ausgestellt haben.«
»Das wird nicht leicht.«
Ich tippte mit den Fingern auf die Zeitung. »Oh, aber ich habe einen Plan. Selbst Vater wird ihn mögen.«
10Es stellte sich als eine Pastete, gefüllt mit Äpfeln, Erdbeeren und Rhabarber, heraus, und die schmeckte ziemlich gut.
5
Actus reus
Ein Verbrechen besteht aus zwei Elementen: mens rea (Lateinisch für »schuldiger Geist«) und actus reus, »die schuldige Handlung« H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.
Später an diesem Tag observierte ich durchs Fenster Trudy, die im Nebenhof Wäsche aufhängte. Es war nicht Redgraves’ üblicher Wäschetag, daher ging ich hinunter, um nach dem Rechten zu sehen.
»Die Herrin braucht Kleidung für ihr Begräbnis«, erklärte Trudy mit einem tränenreichen Schniefen. Schlagartig durchzuckte mich Mitleid mit dem Hausmädchen, das diese Aufgabe ganz allein erledigte, daher packte ich zu und zog ein feuchtes Nachthemd aus dem Korb. Das Hemd war mit zierlicher weißer Spitze eingefasst, hatte winzige Perlenknöpfe und ein weißes Monogramm: M.
»Oh, Trudy, das hier hat aber Flecken.« Außerdem prangte am Handgelenk ein kleiner Schlitz, weil etwas von der Spitze abgerissen war.
Während sie eine Ladung nasser Bettwäsche ausschüttelte, schaute sie zu mir. »Ich kriege die einfach nicht raus. Zweimal habe ich es mit heißem Wasser und Olivenölseife ausgewaschen, aber es hat rein gar nichts gebracht.«
Eine unheilvolle Sache gab es durchaus, die heißes Wasser nicht gut aus einem Nachthemd waschen würde – allerdings kamen mir diese Flecken eigentlich nicht wie Blut vor. Zum einen waren sie dafür zu blass und zum anderen hatten sie einen eindeutigen Gelbstich. »Es ist Blütenstaub«, schlussfolgerte ich.
»Hmm«, stimmte Trudy zu. »Der ist auf allen ihren Kleidern.«
»Selbst auf dem Nachthemd?« Ich betrachtete es eingehender. Die Beschmutzungen waren überall, am Saum, an den Bündchen, verschmiert am Rücken. Nur waren mir die anderen inmitten all der Falten und der Spitze zunächst nicht aufgefallen. Es sah ganz danach aus, als hätte Miss Wodehouse in den Blumen gekniet.
Oder als hätte man sie gestoßen – sodass sie auf Händen und Knien auf die Erde gefallen war. Im Liliengarten, mitten in der Nacht, in ihrem Schlafgewand.
»Hatte sie das in der Nacht an, als sie gestorben ist?«
Trudy nickte. »Es war auch ganz voller Schlamm, doch der war nicht so hartnäckig. Anders als im Badezimmer.«
Sie war mir zuvorgekommen. »Im Badezimmer war Schlamm – als du die Herrin gefunden hast?«
Trudy schniefte noch einmal mitleidig. »Hat Ewigkeiten gedauert, alles aufzuwischen.«
Gerne