Sie wirkte entsetzt. »Oh nein, Miss Hardcastle! Das würde sie auf keinen Fall wollen. Dass diese ordinären Männer ihre … persönlichen Dinge anfassen!«
»Dann vielleicht mein Vater? Wäre das in Ordnung? Er ist sehr diskret.«
Ihr fassungsloser Gesichtsausdruck wurde etwas ruhiger. »Na gut«, sagte sie. »Mr Hardcastle wird wissen, was zu tun ist.«
Behutsam faltete ich das Nachthemd, um die Flecken und das eingestickte Monogramm zu schützen. Dass ich absolut nicht vorhatte, dieses Beweisstück meinem Vater zu zeigen, behielt ich für mich – er würde es nur als lächerlich abtun und darauf bestehen, dass ich es sofort nach Redgraves zurückbringe.
»Danke, Trudy. Du weißt gar nicht, wie viel das bedeutet.«
Ich dagegen schon. Es bewies, dass in der Nacht von Miss Wodehouses Tod nicht nur zwei Männer im Liliengarten gewesen waren – sondern auch Miss Wodehouse.
Während ich meine nächsten Schritte plante, grübelte ich über das nach, was Vater zu Miss Judson gesagt hatte. Es war Freitag, die letzte Gelegenheit, noch vor Miss Wodehouses Beerdigung ihren Obduktionsbericht in die Finger zu bekommen. Daher verbrachte ich ihn – selbstverständlich – damit, mich in meinem Zimmer vor dem Spiegel herauszuputzen.
Was hatte Vater gemeint, als er sagte, ich hätte ein »wahres Talent« dafür, zu stören? Es hatte entschieden anders geklungen, als wenn er zum Beispiel feststellte, Köchin habe ein besonderes Talent für knusprige Pasteten. Wollte er nicht, dass ich schlau und forschend war? Mir war bereits aufgefallen, dass Intelligenz bei den weiblichen Vertretern meiner Gattung nicht allzu hoch angesehen war. Aber, meine Güte, man hörte doch trotzdem niemanden sagen: »Was England wirklich braucht, sind mehr dumme Mädchen«.
Miss Judson erschien mit einem Stoffbeutel über dem Arm. »Dein Vater fand, diese Angelegenheit wäre Anlass genug für ein neues Kleid«, sagte sie.
»Also das ist ja nun wirklich lächerlich«, begann ich, »was ich anhabe, ist doch völlig eg–« bis sie das Gewand herausholte: marineblaue gerippte Seide mit einem knöchellangen Rock und einem Oberteil voller Zierfalten und mit schwarzen Posamenten11. Es war praktisch ein Kleid für Erwachsene, gar nicht so viel anders als das von Miss Judson. Ich griff danach, hielt dann aber inne. »Bekomme ich ein Korsett?«
»Sobald du eins brauchst.«
»Also vermutlich niemals«, grummelte ich. Ich trug noch immer ein babyhaftes, vorne zuknöpfbares »Leibchen«, das nur betonte, wie jung und klein geraten ich war.
»Stimmt, zumindest wenn deine Neugier uns beide vorher ins Grab bringt«, stimmte sie gut gelaunt zu, während sie mir dabei zur Hand ging, die zusätzlichen neuen Lagen anzulegen, die man für diese Garderobe benötigte (einschließlich eines Überflusses an Unterröcken). »Magst du mir nun vielleicht irgendwelche Details deines ominösen Plans verraten?«
Ich steckte die Arme in die Ärmel, die fast schon absurd eng saßen. »Wie soll ich darin denn irgendetwas machen?«
»Was musst du denn machen?«
»Weiß ich nicht, Mädchensachen eben. Pianoforte spielen?«
»Du spielst kein Pianoforte«, sagte sie. »Du hast dich über zu viele Klavierlehrer lustig gemacht. Zurück zu deinem Plan.«
Ich drehte mich zu ihr um, während sie den Rock richtete. Das Beste daran waren die Taschen: Unmengen davon, innen wie außen. Vater war ein Vertreter der Kleidungsreform, wodurch er auch von besonderen Pluderhosen zum Radfahren erfahren hatte. Während ich die Röcke probehalber schwingen ließ, beantwortete ich Miss Judsons Frage, mehr oder weniger zumindest: »Erinnern Sie sich noch daran, als wir die Spione mittelalterlicher Mogule durchgenommen haben? Und dass keiner der Beteiligten einer Mission je alle Details kannte, damit er selbst unter Folter keine wichtigen Informationen preisgeben konnte?«
»Danke, dass du mich vor den Daumenschrauben bewahrst«, sagte Miss Judson und ich konnte nicht genau sagen, ob sie versuchte, witzig zu sein. »Dir ist bewusst«, fuhr sie fort, »dass dein Vater dafür auch glauben muss, dass ich keine Ahnung von deinem Plan habe. Soll ich vielleicht am besten gleich zu ihm ins Arbeitszimmer marschieren und sagen: Mr Hardcastle, ich bringe Myrtle zu ihrem nächsten Fiasko, allerdings habe ich keine Ahnung, was sie vorhat, daher denken Sie daran, dass mich keine Schuld trifft, wenn etwas schiefläuft?«
»Hervorragend«, sagte ich. »Sie haben Ihren Part im Ablauf begriffen.«
Andere Mädchen waren langweilig. In meiner Nachbarschaft gab es einige wie mich, Mädchen der Mittelschicht, doch wenn es sich vermeiden ließ, gaben wir uns nicht miteinander ab. Sie sahen mich an, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, und gaben mir gerne »freundliche Ratschläge« für meine Haare oder Kleider, was mir ganz und gar nicht freundlich gemeint erschien. Ich bemängelte meinerseits ihr fehlendes Interesse an Eingeweiden. Vater lag mir ständig in den Ohren, ich solle mehr Zeit mit ihnen verbringen, doch sie hatten sämtliche meiner Einladungen zu Tee und Sezierübungen abgelehnt. Heute jedoch hatte ich mich freiwillig in ihre Fänge begeben und erduldete Stunden voller langweiliger Kartenspiele (da sie nichts von Wahrscheinlichkeitsrechnung verstanden, gewann ich jedes Mal) und Diskussionen über reißerische Romane, die ich nicht gelesen hatte.
Miss LaRue Spence-Hastings, blond, vierzehn und die Art von Mädchen, die niemals einen Mordprozess stören würde, betrachtete mich von Kopf bis Fuß und seufzte mitleidig. »Caroline, findest du nicht, Miss Hardcastle würde absolut hinreißend in dieser lachsfarbenen Pelerine aussehen?« Eine Pelerine, lieber Leser, war eine Art kurzer Umhang aus Spitze mit dem einzigen Zweck, ein Mädchen davon abzuhalten, seine Hände oder Arme zu gebrauchen. Die von LaRue hatte einen besonders hässlichen Rosaton mit passend gefärbten großen Fellquasten.
Unsere Gastgeberin, Miss Caroline Munjal, schälte sich von der Chaiselounge und warf sich dabei den schwarzen geflochtenen Zopf über die Schulter. »Ach nein. Ich habe genau das Richtige«, sagte sie. Caroline lebte auf der anderen Seite des Parks in einem vierstöckigen Stadthaus mit einem hervorragenden Gefälle von der Haupttreppe hinab in die marmorne Empfangshalle – gewiss tödlich – und einem Kutschenhaus, groß genug für eine eigene Leichenhalle. LaRue war Carolines Nachbarin, und die Mütter der beiden Mädchen waren an diesem Nachmittag gemeinsam ausgegangen, um ihren eigenen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Ich befand mich also allein in feindlichem Gebiet – und das war mir wohl bewusst.
Caroline huschte davon, um wenig später beladen mit schwarzer Spitze und Krepp zurückzukommen. Sie schüttelte ein langes schwarzes Kleid und eine Haube aus, die vor schwarzen Schleiern und noch mehr schwarzen Blumen nur so überquoll, bevor sie mir beides überwarf. »Damit kommen Sie auf die allerbesten Begräbnisse!«, rief sie, während LaRue sang: »Myrtle Makaber, Myrtle Makaber.«
Es war nun aber so, dass ich einen mehr als guten Grund dafür hatte, Carolines und LaRues Grausamkeiten über mich ergehen zu lassen, und zwar: Dr. Vikram Munjal, Carolines Vater, war der Swinburner Gerichtsmediziner. Also schluckte ich sowohl meinen Stolz als auch meine fieseste Entgegnung hinunter, hielt mir das Kleid an den Körper und nahm eine möglichst modische Pose ein. LaRue war unbeeindruckt.
»Das ist langweilig«, sagte sie. »Machen wir was Lustiges.« LaRue war die Anführerin – egal, was sie vorschlug, Caroline machte mit.
Ich stopfte meinen Groschenroman in die Tasche. »Nun«, sagte ich und gab mir Mühe, zurückhaltend zu klingen, »also ich habe mich ja schon immer gefragt, wie es wohl in Dr. Munjals Büro aussieht.«
Caroline schien beunruhigt. »Wenn er nicht zu Hause ist, darf ich da nicht rein.«
»Umso besser.« LaRue setzte sich die schwarze Haube auf den Kopf und warf Caroline das Spitzenkleid zu. »Gehen wir.«
Sowohl im Gang mit der schweren Tapete und dem Regal mit den Sammeltassen vom Goldenen Jubiläum Ihrer Majestät12 als auch den gesamten Weg bis zum gemauerten Kutschenhaus im Garten