Nachdem ich einige angespannte Augenblicke lang geschmollt hatte, hielt ich es nicht länger aus. Ich gab meiner – ja, ich nenne es beim Namen – makabren Neugier nach. Ich stand auf und schlich zum Untersuchungstisch. Noch mehr Wolken hatten sich aufgetürmt und Schatten bedeckten die Arbeitsflächen und medizinischen Instrumente. Die Probengläser im Fenster sahen aus wie schreckliche Marionetten, die sich für ihren Auftritt bereithielten.
Der Tisch reichte mir bis an die Brust, bestand aus weißer Emaille mit einer runden, erhöhten Kante, die mich an Miss Wodehouses berüchtigte Badewanne denken ließ. Ich wollte wissen, was unter diesem Laken war, und gleichzeitig auch nicht. Ich atmete tief durch den Mund ein. Was ich bemerkte: die Länge des Umrisses auf dem Tisch (etwa 1,50 Meter), der Zustand des Lakens (sauber), die erhöhte Intensität des Geruchs aus dieser Nähe (Sie machen sich keine Vorstellung!), das schlimme Sirren der Fliegen, die überall zu sein schienen. Ich trat ans hintere Ende des Tischs – das Fußende, wie ich hoffte – und hob das Laken vorsichtig an der Ecke an.
Darunter war Fleisch. Nicht im metaphorischen Sinne. Im Sinne von »viel zu viel Geld beim Metzger ausgegeben«, nämlich eine große hässliche Hammelseite, noch nicht in Keulen und Koteletts geschnitten. Wie Nebel stieg der Gestank nun auf. Überall sirrten und krabbelten und nisteten Fliegen im Fleisch. Ich schluckte schwer, begriff aber sofort. Nach dem Tod können verschiedene Insekten eine Leiche befallen, und offenbar studierte Dr. Munjal dieses Verhalten.
Noch immer hielt ich die Ecke des Lakens in der Hand, als ich hörte, wie jemand die Tür aufsperrte, und im Raum das gelbe Flackerlicht der elektrischen Lampen zu Leben erwachte.
»Was tun Sie hier?«, verlangte eine Stimme zu wissen.
Als ich herumwirbelte, sah ich mich dem finster dreinblickenden (und mit einem prächtigen Schnurrbart geschmückten) Dr. Vikram Munjal gegenüber.
11Lieber Leser, hierbei handelte es sich weder um Musikinstrumente noch irgendetwas Exotisches, sondern einfach um geknotete Verschlüsse aus Seidenkord.
12Kaiserin von Indien
6
Hoher Giftgehalt und längere Exposition
Das Studium der Toxine sollte bei der Ausbildung eines Ermittlers eine übergeordnete Rolle spielen. Viele Gifte können gewöhnliche Krankheiten nachahmen, sodass ein Ermittler in der Lage sein muss, verdächtige Symptome von denen zu unterscheiden, die lediglich bedauerlich sind. H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.
»Dr. Munjal!« Ich wich einen Schritt zurück – zumindest versuchte ich es, knallte jedoch prompt gegen sein Fleisch-und-Fliegen-Experiment. Die Fliegen stoben in den Raum wie ein schimmernder grüner Nebel. »Schnell, lassen Sie sie nicht hinaus!«
Offenbar war dies nicht die Reaktion, mit der er gerechnet hatte. Einen Augenblick starrte er mich an, dann griff er hinter sich und schloss die Tür. »Sie bleiben immer in der Nähe des Fleisches«, sagte er. Er war älter als Vater, hatte dunkelolivefarbene Haut und sehr dunkle Augen hinter einer von Regen besprenkelten Brille. »Sie sind die Tochter von Arthur Hardcastle, nicht? Sie waren mit Caroline zum Lunch verabredet.«
Ich nickte schuldbewusst.
»Dann erklären Sie mir bitte, was das hier zu bedeuten hat.«
Ich zögerte, doch entschied dann, dass Lügen keinen Sinn hätte. »Es war nicht Carolines Schuld«, fing ich an.
»Ah. LaRue. Dieses Mädchen …« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Doch meine Tochter sollte es besser wissen, als ausgerechnet hier Späße zu treiben. Es tut mir außerordentlich leid, dass sie Ihnen Angst einjagen wollten.« Seine Miene war voller Mitgefühl. »Geht es Ihnen gut?«
»Selbstverständlich«, sagte ich beherzt, teils um meine eigenen Gewissensbisse zu verbergen, teils um zu überspielen, wie erleichtert ich über sein Erscheinen war. »Die Fliegen – was für eine Art ist das?«
»Calliphora«, antwortete er und sah mich seltsam an. »Schmeißfliegen. Ich versuche, eine präzisere Methode zu entwickeln, anhand derer man den Todeszeitpunkt feststellen kann.« Ich nickte. Und schnitt womöglich auch eine Grimasse. Gewiss wäre es faszinierend gewesen, eines Tages darüber zu lesen. »Nun, Miss Hardcastle, wollen wir Sie nach draußen bringen?«
Oh ja, bitte. Doch mein Werk war noch nicht getan, ich konnte unmöglich mit leeren Händen abziehen! Ich ergriff meine letzte Chance. »Warten Sie, Doktor …« Er war bereits halb zur Tür hinaus, also platzte ich heraus: »Warum behaupten Sie, Minerva Wodehouse sei eines natürlichen Todes gestorben?«
Stirnrunzelnd drehte er sich zu mir um. »Wie bitte?«
»Meine Nachbarin, die gestorben ist – warum haben Sie keine ordentlich Autopsie gemacht?« Als er nicht sofort antwortete, frischte ich das Gedächtnis meines Zeugen auf. »Eine ältere Dame, sie wurde am Mittwoch in ihrer Badewanne aufgefunden.« Ich stand sehr aufrecht, wie ein ebenbürtiger Experte, kein bisschen wie ein törichtes Kind, das sich in eine Leichenhalle hatte einschließen lassen.
»Nein, nein, ich weiß. Junge Dame, ich glaube durchaus nicht, dass wir darüber sprechen sollten.« Er wollte das Licht ausschalten, als ihm all die Papiere auffielen, die ich hatte herumliegen lassen. Wenn das keine Lektion war, die Miss Judson gefallen hätte: Vergiss nie, hinter dir aufzuräumen! Langsam nahm er die Hand vom Lichtschalter und ließ sie sinken. »Was haben Sie hier gemacht?«
»Ihren Befund gesucht.«
Er rückte die ENTHAUPTET?-Mappe gerade und setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. Lange sagte er gar nichts, und als er es doch tat, überraschte er mich. »Ich kannte Ihre Mutter, wussten Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen brannten etwas. »Woher?«
»Aus dem Lehrkrankenhaus, vom Medizinstudium. Wir waren beide Außenseiter in unserer Klasse.« Dr. Munjal deutete auf sich und ich verstand, was er meinte: die weibliche Studentin und der aus Indien. »Sie war verflixt schlau. Sie hätte eine feine Ärztin abgegeben.«
»Zu schade, dass sie es aufgeben musste, um zu heiraten und mich zu haben.«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »So hätte sie das sicherlich nicht gesehen«, sagte er. »Na schön, Ihrer Mutter zuliebe und weil jeder, der – wie lange? – hier drin eingesperrt war, es verdient hat, wenigstens nicht mit leeren Händen von dannen zu ziehen. Was wollen Sie wissen?« Er hob seine Aktentasche neben sich auf den Schreibtisch und klappte sie auf. »Da haben wir es: Minerva Wodehouse. Herzversagen.« Er reichte mir ein Blatt, bestückt mit lauter herrlichen, offiziellen Stempeln und Sigeln, und am unteren Ende prangte seine straffe, saubere Unterschrift. Darüber stand: GERICHTSMEDIZIN.
Ich verschlang den Bericht, las alles ganz genau, wollte nichts übersehen oder falsch verstehen, kein noch so kleines Detail. Es gab eine kurze Beschreibung darüber, wo man Miss Wodehouse gefunden hatte (Badewanne), und es war der Zeitpunkt vermerkt, als die Polizei benachrichtigt worden war (7 Uhr 20, dank eines »Anrufs durch besorgte Nachbarin« [hüstel]). »Woher wissen Sie, dass sie nicht ertrunken ist?«
»Dann hätte es in ihrer Lunge Wasser gegeben sowie in Nase und Mund Schaum«, antwortete Dr. Munjal. »Herzversagen war wahrscheinlicher, angesichts ihres Alters und anderer Faktoren.«
Auf diese »anderen Faktoren« würde ich später zu sprechen kommen. »Das könnte aber doch bedeuten, dass sie schon tot war, bevor sie im Wasser landete. Nicht wahr?«, ergänzte ich und gab mir Mühe, nicht zu streitlustig zu klingen.
»Nun«, sagte er und betonte das Wort besonders lang, »normalerweise, ja. Hätte man sie in einem Teich gefunden oder etwas Ähnlichem, hätten wir uns gefragt, ob sie sich nicht den Kopf gestoßen oder vielleicht einen Hirnschlag erlitten haben und deswegen