»Myrtle!«
»Im Falle eines verdächtigen Todes hat jeder Bürger das Recht darauf, zu verlangen, dass der Leichenbeschauer eine erste Einschätzung vornimmt.«
Aus Miss Judsons Gesicht verschwand alle Heiterkeit. »Das wirst du schön bleiben lassen!«, sagte sie streng. »Ich kann verstehen, dass du neugierig bist und wissen willst, was passiert ist, und ich weiß auch, es steckt mehr dahinter als eine makabre Faszination für den Tod. Aber haben wir diese arme Familie nicht schon genug belästigt? Sie ist gerade erst gestorben. Warum kannst du nicht auf die Todesanzeige warten wie jeder andere auch?«
Ich war unsicher, wie ich es ihr erklären sollte, wenn sie es noch nicht verstanden hatte. Dabei sollte sie – immerhin war sie Miss Judson. Niemand auf der Welt kannte mich besser als sie. »Ich muss einfach wissen, was passiert ist«, murmelte ich. »Wir kommen zu spät.« Damit schob ich mich an ihr vorbei ins Gericht und versuchte, mich mit einem netten Mordprozess zu begnügen.
Die Verhandlung hatte bereits begonnen, doch der Gerichtsdiener erkannte uns und ließ uns leise auf die öffentliche Galerie schlüpfen, von der aus man auf den Gerichtssaal blicken konnte. Vater sah in seiner schwarzen Robe und der weißen Perücke famos aus, wie er so forsch vor der Richterbank auf- und abschritt. Ich linste zu Miss Judson, um zu sehen, ob es ihr ebenfalls aufgefallen war, doch sie hatte bereits Platz genommen und sich über ihr Skizzenbuch gebeugt. Was sie zeichnete, konnte ich allerdings nicht erkennen.
Die Beschuldigten saßen auf der Anklagebank, einem kleinen abgeschlossenen Kasten, dessen einzige Tür direkt zu den Gefängniszellen führte. Sie war so positioniert, dass jeder im Saal einen guten Blick auf die Insassen hatte. Der erste Mann, dessen Name Cobb lautete, machte einen mürrischen, wütenden Eindruck, hatte dichte Augenbrauen und eine schiefe Nase, die vermutlich bereits mindestens einmal gebrochen worden war.8 Der Zweite, mit Namen Smythe, war jünger. Er war blass, schwitzte und zog sich immer wieder am Kragen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sie einen anderen Mann zu Tode prügelten, doch ohne Erfolg.
Wir waren rechtzeitig zum besten Teil angekommen: Gerade begann der Leichenbeschauer mit seiner Aussage. Als der Beamte, der für jeden zuständig war, der in Swinburne sein Leben ließ, wurde er regelmäßig als Zeuge zu Vaters Fällen hinzugerufen. Die Obduktion von Mordopfern führte er allerdings nicht durch – diese Aufgabe kam dem Gerichtsmediziner zu –, doch davon abgesehen kannte er sich mit den wissenschaftlichen Aspekten des Todes extrem gut aus.
»Ich betrat die Gaststätte Bells Taverne am Abend des achten Juli«, sagte der Leichenbeschauer gerade. »Dort fand ich die Leiche des Opfers vor. Todesursache waren offensichtlich mehrere Hiebe auf Kopf und Gesicht. Neben dem Toten lag eine zerbrochene Whiskyflasche.«
»Und wie lautet Ihre Einschätzung, Sir, hinsichtlich der Umstände dieses Todes?«
»Vorsätzlicher Mord.«
Mit dem Notizbuch in der Hand hörte ich den restlichen Vormittag über selig zu und vergaß vorübergehend sogar die Meinungsverschiedenheit mit Miss Judson. Ich hatte gar nicht wirklich vorgehabt, eine Untersuchung von Miss Wodehouses Tod zu verlangen, ich dachte nur, es würde den Leichenbeschauer interessieren, was an den Ereignissen der vergangenen Nacht alles nicht zusammenpasste. Davon, dass Inspektor Hardy meine Bedenken in seinem Bericht erwähnen würde, war ich nämlich nicht überzeugt – noch dazu hatte er vom Liliengarten noch gar nichts erfahren. Sollte Miss Wodehouse Opfer eines Verbrechens geworden sein, sollte es doch gewiss jemand aufdecken, oder nicht?
Endlich veränderte Miss Judson ihre Position ein wenig, sodass ich einen Blick in ihr Skizzenbuch werfen konnte. Sie hatte ein kleines Porträt von Vater mit seiner Perücke in ihre Darstellung des Prozesses gezwängt. Er sah hinreißend aus, zudem hatte sie fabelhaft sein ausgeprägtes Kinn und die Entschlossenheit in seinem Blick eingefangen, mit dem er feurig in den Saal schaute. Mir ging das Herz auf.9
Wir lauschten, wie der gegnerische Anwalt seine Verteidigung aufbaute, doch Vater widerlegte jedes Argument, das dieser vorbrachte, bis man am Ende nur noch einen einzigen Schluss ziehen konnte, nämlich dass die beiden Angeklagten einen unschuldigen Mann mit voller Absicht ermordet hatten. Ich fand Vaters Arbeit faszinierend, wie er einzelne Beweisstücke zusammensetzte, um ein klares, unwiderlegbares Bild zu erhalten. Es war wie das Zusammenspiel der Planeten am Himmel oder die Elemente des Periodensystems. Die natürliche Ordnung des Universums von Leben und Tod, Gut und Böse, Gesetz und Ordnung.
Ich schlug in meinem Notizbuch eine neue Seite auf. Die Aufgabe eines Staatsanwalts ist es, bei einem Prozess ein Übergewicht an Beweisen aufzuzeigen, also den überwältigenden Eindruck zu erwecken, dass alle Indizien für die Schuld des Angeklagten sprechen. Im Fall von Miss Wodehouses Tod hatte ich noch keine Verdächtigen und beweisen ließ sich erst recht nichts, dennoch wurde ich allmählich auf solch ein Übergewicht aufmerksam. Das Vernichten ihrer Lilien, mysteriöse Männer, die mitten in der Nacht in ihrem Garten herumschlichen und einen blutigen Zigarrenschneider fallen ließen, der mehr als ungewöhnliche Zeitpunkt für ein Bad, Mr Hamms Verbrennen von »Abfall« und seine Lügen … Alte Damen mit guter Gesundheit fielen nachts nicht einfach so tot um, nachdem ihr Lebenswerk dem Erdboden gleichgemacht wurde. Eine Untersuchung konnte ich vielleicht nicht einfordern, trotzdem kam mir der Tod von Miss Wodehouse hochgradig verdächtig vor. Sogar mehr als das.
»Es war Mord!«
6Eine pädagogische Technik, bekannt als sokratische Methode, benannt nach dem griechischen Philosophen der Antike, die sich meines Wissens nach auch in rechtswissenschaftlichen Fakultäten großer Beliebtheit erfreute. Und bei gereizten Eltern.
7dank Amelia Bloomer und Lucy Stone, zwei berühmten amerikanischen Frauenrechtlerinnen, die diese praktische Neuerung vorangetrieben hatten
8Da ihm zu Last gelegt wurde, einen Mann bei einer Schlägerei getötet zu haben, lag es nahe, dass er erfahren im Boxen war – da meine eigenen Bestrebungen auf dem Gebiet des Faustkampfes an gewissen Schwierigkeiten gescheitert waren, konnte ich jedoch nicht sicher sein.
9Natürlich nur im bildlichen Sinne. Eine spontane Koronardissektion wäre eine extrem ernst zu nehmende Krankheit.
4
Post Mortem
Die Post-Mortem-Untersuchung, auch Autopsie oder Obduktion genannt, erfordert die nötige Begabung und Erfahrung, sowohl die medizinischen als auch die kriminalistischen Hinweise zu interpretieren, zu kombinieren und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Manchmal liegt zwischen einem Mord und einem natürlichen Tod lediglich der Füllerstrich des Leichenbeschauers. H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.
Das war mir mit deutlich mehr Begeisterung herausgerutscht, als ich beabsichtigt hatte, ganz zu schweigen von der Lautstärke – mitten in der dramatischen Pause des Verteidigers, als im gesamten Gerichtssaal angespannte, drückende Stille herrschte.
»Was? Welcher Mord? Wer war das?«, schnappte Richter Fox, der schon recht alt und etwas schwerhörig war. »Das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, guter Mann!«
»Ich habe das nicht gesagt«, protestierte der Verteidiger. »Es kam von der Galerie.«
In meinem Eifer war ich aufgesprungen. Nun wollte Miss Judson mich dringend wieder zum Hinsetzen bewegen, weil sich alle Köpfe im Saal – einschließlich des von Cobbs pummeligem Verteidiger – sich