Übersicht 10: Systematik der Grundrechte
Regelungs- bzw. Schutzbereich | Grundrechtsnormen |
Schutz des Individuums und seiner Privatsphäre | Würde des Menschen, Art. 1 Abs. 1 allg. Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit d. Pers., Art. 2 Abs. 2, 104 Schutz der Privatsphäre, Art. 10, 13 |
Schutz von Ehe und Familie. Kindererziehung. Schulwesen | Schutz der Ehe, Art. 6 Abs. 1 Recht und Pflicht zur Kindeserziehung, Art. 6 Abs. 2 Schutz der Familie und der Mutter, Art. 6 Abs. 3 und 4 Schulwesen, Art. 7 |
Schutz kommunikativen Handelns | Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnisfreiheit, ungestörte Religionsausübung, Art. 4 Meinungs- und Informationsfreiheit, Rundfunk-, Film- u. Pressefreiheit, Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Kunst, Art. 5 Petitionsrecht, Art. 17 Versammlungsfreiheit, Art. 8 Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 u. 2 |
Schutz der Erwerbstätigkeit und des Erworbenen | Freizügigkeit, Art. 11 Berufsfreiheit, Art. 12 Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 Eigentumsfreiheit, Art. 14 |
Allg. Handlungsfreiheit und Gleichheitsrechte | Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 allg. Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 spezielle Gleichheitsrechte, Diskriminierungsverbot, Art. 3 Abs. 2 u. 3, Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 2 |
Justizgrundrechte | Rechtsweggarantie, Art. 19 Abs. 4 Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 Recht auf bestimmte und nichtrückwirkende Strafgesetze, Art. 103 Abs. 2 Verbot der doppelten Bestrafung, Art. 103 Abs. 3 |
Grundrechte mit internationalem Bezug | Verbot des Entzugs der Staatsangehörigkeit, Art. 16 Abs. 1 Auslieferungsverbot, Art. 16 Abs. 2 Recht auf Asyl, Art. 16a Abs. 1 |
Weniger problematisch, so wäre zu vermuten, sollte die weitere Voraussetzung sein, dass Grundrechte nur Lebenden eine Rechtsmacht einzuräumen vermögen. Jedoch hat das BVerfG hier Ausnahmen anerkannt. In seiner Entscheidung zu dem Roman „Mephisto“ von Klaus Mann im Jahr 1971 (BVerfGE 30, 173) billigte es dem zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Schauspieler Gustaf Gründgens einen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsbereich zu, der vorliegend eine Grenze für die Ausübung des Grundrechts der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG bildete. Darüber hinaus hat es in zwei Entscheidungen zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus den Jahren 1975 und 1993 den Staat mit Hinweis auf die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 1 Abs. 1 GG dazu verpflichtet, für den Schutz des ungeborenen Lebens zu sorgen (BVerfGE 39, 1; 88, 203).
Knüpft man an den Gedanken des grundrechtlichen Schutzes für ungeborenes Leben an, dann ist auch die für Sozialarbeiter / Sozialpädagogen wichtige Frage, ob auch Minderjährige bereits grundrechtsmündig sind, von vornherein entschieden. Denn der Begriff der Menschenrechte knüpft selbstredend an die Rechtsfähigkeit des Menschen an, die mit seiner Geburt eintritt. Deshalb ist nach dem Grundrechtsverständnis des GG, wenn schon das ungeborene Leben, dann erst recht jede natürliche Person, und somit auch das Kind in seiner Individualität, Grundrechtsträger (BVerfG 29.07.1968 – E 24, 119, 144). Dass sich auch im Lebensbereich Minderjähriger Grundrechtsbeschränkungen (etwa im Bereich der Schulpflicht oder des Jugendschutzes) oder Grundrechtskollisionen (etwa mit dem elterlichen Recht auf Erziehung, Art. 6 Abs. 2 GG) geltend machen können, steht dem noch nicht entgegen. Lediglich dass ihre Prozessfähigkeit von einer bestimmten Reife abhängig zu machen ist, die aber auch nicht notwendigerweise erst mit Eintritt in die Volljährigkeit erreicht sein muss (Pieroth et al. 2015, 40 ff.), bedarf in diesem Zusammenhang einer besonderen Erwähnung.
2.2.3 Funktion der Grundrechte
Abwehrrechte
Meinungs- und Pressefreiheit
Wie bereits gesehen, besteht die ursprüngliche Funktion der Grundrechte darin, den Staat aus der Privatsphäre des Bürgers herauszuhalten. Sie sind daher in erster Linie (BVerfG 1 BvR 400 / 51 – 15.01.1958 [Lüth]) und auch zahlenmäßig zum größeren Teil als Abwehrrechte ausgestaltet (Art. 2 Abs. 2 und 3, Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 – 13, Art. 14 Abs. 1, Art. 16 GG). Einschränkungen der dort definierten Schutzbereiche oder Eingriffe in sie sind nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Grundrechtsnorm selbst den Gesetzgeber zu derartigen Einschränkungen oder Eingriffen ermächtigt (Gesetzesvorbehalt, vgl. auch 2.1.2.1) bzw. auch dadurch, dass andere Verfassungsnormen mit ihr kollidieren. Während Grundrechtsschranken aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts im Kontext Sozialer Arbeit insb. auch in Bezug auf das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG von Bedeutung sind (s. hierzu 2.2.6), ist ein wichtiger sozialarbeiterisch einschlägiger „klassischer“ Gesetzesvorbehalt in Art. 5 Abs. 2 GG formuliert. Hiernach sollen Meinungs- und Medienfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG zunächst durch allgemeine Gesetze beschränkt werden dürfen. Allgemein meint hier, dass das grundrechtsbeschränkende Gesetz nicht gegen eine bestimmte Person oder eine bestimmte Meinung gerichtet sein darf (Jarass / Pieroth 2016, Art. 5, Rn. 67). Darüber hinaus erhält die Vorschrift aber noch eine „Wertung des Grundgesetzes …, wonach der Schutz der Jugend ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen ist“ (BVerfGE 30, 348). Deshalb lässt eine spezielle Jugendschutzschranke in Art. 5 Abs. 2 GG in diesem Bereich auch „nicht-allgemeine“ Gesetze zu (Epping 2017, 110). Legitimiert sind derartige Grundrechtsbeschränkungen allerdings erst, wenn sie bestimmten formellen und materiellen Anforderungen genügen. Zu letzteren gehört z. B. die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (hierzu 2.1.2.2) sowie die Garantie, dass das Grundrecht in seinem Wesensgehalt unangetastet bleibt (Art. 19 Abs. 2 GG; im Einzelnen vgl. Manssen 2017, 57 ff.).
Als Abwehrrechte funktionieren Grundrechte aber nicht nur dann, wenn administrative oder auch justizielle Entscheidungen die Autonomie des Bürgers in einem engeren Sinne von Privatheit tangieren. Sie entfalten ihre Abwehrfunktion auch dort, wo sich Bürger – etwa auf Versammlungen und in Demonstrationsaufzügen (Art. 8 GG) oder in Vereinen, Parteien oder Gewerkschaften (Art. 9 GG) – zum Zweck der Verfolgung gemeinsamer Interessen zusammenschließen. Sofern diese Zusammenschlüsse mit Formen bürgerschaftlichen Protestes (in der Vergangenheit etwa in der Anti-AKW-Bewegung, gegen die Startbahn West oder die Stationierung von Atomsprengköpfen, später gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen, gegen neonazistische Aufmärsche und Kundgebungen, aber auch gegen Umweltzerstörung u. a.) in Zusammenhang zu bringen sind, ist der mit ihnen begehrte Grundrechtsschutz funktional auch als Kompensation für eine Verengung demokratisch entscheidbarer Bereiche innerhalb des Verfassungsstaates zu erklären. Dies betrifft nicht nur den grundrechtlichen Schutz von Minderheitenpositionen schlechthin, sondern auch von solchen Positionen, die sich gegen Ergebnisse demokratisch durchgeführter Verfahren bzw. gegen Festlegungen demokratisch legitimierter Entscheidungsträger richten. Derartige Proteste verweisen auf die Möglichkeit von Irrtümern auch durch Mehrheiten (Rödel / Frankenberg / Dubiel 1989, 41). Sie appellieren, wie Habermas formuliert, (teilweise robust) „an Amtsinhaber und Mandatsträger, formal abgeschlossene Beratungen wieder aufzunehmen, um in Abwägung der fortdauernden öffentlichen Kritik ihre Beschlüsse gegebenenfalls zu revidieren“ (Habermas 1992, 462 f.). Daher gehören sie selbst zum demokratischen Arsenal. Sofern allgemeine Gesetze, z. B. das VersammlG, in diese Protestformen beschränkend eingreifen, können sie das jedenfalls nur in dem Umfang tun, dass ein effektiver Gebrauch der grundrechtlich geschützten sozialen Aktionsformen gewährleistet bleibt. So hat etwa das OVG Münster entschieden, dass von einer friedlichen Blockade (eines rechtsextremistischen Demonstrationsaufzuges) noch keine solche Störung i. S. v. § 2 Abs. 2 VersammlG ausgehe, dass die Blockade als rechtswidrig anzusehen sei. (5 A 1701 / 11 – 18.9.2012,). Auch die versäumte Anmeldung einer Versammlung (§ 14 VersammlG) beseitigt nicht deren grundrechtlichen Schutz, sondern begründet bestenfalls ihre Auflösung (VG Düsseldorf 18 K 3033 / 09 – 21.04.2010). Selbst dass aus einer Versammlung heraus Gewalttätigkeiten erfolgen, kann, wie derselben Entscheidung zu entnehmen ist, nicht gegen andere, friedliche Versammlungs- oder Demonstrationsteilnehmer gewendet werden mit der Folge, dass diesen ihr grundrechtlicher Schutz verwehrt