Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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„zur Erlangung und Wahrung der ihnen vom Gesetz zugedachten Rechte nach Kräften beizustehen“, denn im sozialen Rechtsstaat sind die Amtsinhaber nicht nur Vollstrecker staatlichen Willens und nicht nur Diener des Staates, sondern zugleich auch „Helfer des Bürgers“(BGH NJW 1965, 1227);

      ■ zur Berechnung der im Rahmen der Sozialhilfe gewährten Regelleistungen, insb. für Kinder, den notwendigen Bedarf in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu ermitteln. Zudem muss der Gesetzgeber, neben der Deckung des typischen Bedarfs zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag, für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen (BVerfG 1 BvL 1 / 09 – 09.02.2010).

      Allerdings ist der Sozialstaatsgrundsatz inhaltlich nicht konkretisiert. Er enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne zusätzliche gesetzliche Grundlage umgesetzt werden könnten (BVerfGE 65, 182, 190). Der einzelne Bürger kann deshalb aus dem Sozialstaatsprinzip grds. keine Ansprüche auf konkrete Leistungen ableiten (vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 SGB I). Vielmehr ist es – gemäß dem Demokratieprinzip – Aufgabe des Gesetzgebers, das Sozialstaatsprinzip durch gesetzliche Normen zu konkretisieren und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 33, 303, 333; 69, 272). Deshalb wurde im SGB I die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zu einer grundlegenden staatlichen Aufgabe gemacht. Das Sozialstaatsprinzip hat also zunächst Steuerungsfunktion für die Sozialgesetzgebung. Ausfluss des Sozialstaatsprinzips sind insoweit z. B.:

      ■ die im SGB geregelten Ansprüche auf staatliche Leistungen,

      ■ im Arbeitsrecht z. B. die Kündigungsschutzvorschriften, das Mutterschutz-, Schwerbehinderten- und Jugendarbeitsschutzgesetz,

      ■ im Wohnungs- und Mietrecht ebenfalls die Kündigungsschutzvorschriften sowie die Regelungen über Wohnungsbaudarlehen oder die Berechtigung zum Bezug von Sozialwohnungen,

      ■ in der Steuergesetzgebung z. B. die steuerliche Freistellung des Existenzminimums oder die Steuerbegünstigung gemeinnütziger Vereinigungen.

      Darüber hinaus muss die Verwaltung das Sozialstaatsprinzip als bindende Auslegungsregel (hierzu 3.3.2) sowie bei der Anwendung von Ermessensvorschriften beachten.

      Subsidiaritätsprinzip

      Das Gebot der Menschenwürde schließt die abhängig machende Totalversorgung und eine fürsorgerische Belagerung durch den Staat aus. In neuerer Zeit spricht man von dem „Leitbild des aktivierenden Sozialstaates“, der die Förderung und Befähigung des Einzelnen zur Übernahme von Eigenverantwortung unter dem Schlagwort des „Förderns und Forderns“ zum Ziel hat. Traditioneller spricht man hier vom Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“, vom Nachrang- oder Subsidiaritätsprinzip. Im weiten, grundsätzlichen Sinne geht es dabei um das Verhältnis von Bürger und Staat überhaupt. Im engeren Sinne geht es um das Verhältnis freier Träger (= Bürger) zu öffentlichen Trägern (= Staat). Der Subsidiaritätsgedanke ist zunächst Kern des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Bei staatlichen Interventionen muss stets geprüft werden, ob diese nicht nur geeignet, sondern auch notwendig sind (s. 2.1.2.2). Das gilt für Hilfeleistungen ebenso wie bei Eingriffen. Die Intervention des Staates ist nicht erforderlich, wenn und soweit die Bürger sich selbst helfen können. Selbst wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind, bleiben sie vollwertige Rechtssubjekte, deren Würde unangetastet bleibt und bleiben muss. Ein fürsorgerisch-entmündigender Umgang mit hilfebedürftigen Menschen ist nicht nur unsozial und fachlich inadäquat, sondern auch verfassungswidrig. Nicht alles, was nützt, ist auch erlaubt. Hilfe muss aus ethischen, sozialpädagogischen wie rechtlichen Gründen immer Hilfe zur Selbsthilfe sein. Im Hinblick auf den Nachrang staatlicher Hilfe und den Vorrang der Hilfe zur Selbsthilfe kann man also in Anknüpfung an das Verhältnismäßigkeitsgebot in der Sprache der Sozialen Arbeit formulieren: so selbstständig, so viel Eigenverantwortung und Freiraum wie möglich, deshalb so wenig Hilfe wie möglich, aber so viel Hilfe wie nötig.

      Während der abwehrende („negative“) Aspekt des Subsidiaritätsgedankens zur Zurücknahme des staatlichen Kontrollzugriffs verpflichtet, beinhaltet seine positive Seite aber immer auch die Verpflichtung des Staates, dem Bürger helfend zur Seite zu stehen, wenn seine eigenen Kräfte nicht ausreichen. Denn wenn der Sozialstaat nur die Aktivierung des Einzelnen forderte, ohne seinerseits entsprechende Unterstützungssysteme bereitzustellen oder gar die mangelnde Bereitstellung, das Wegbrechen und den Abbau integrativer Sozialleistungen durch eine verstärkt ordnungsrechtliche Sozialkontrolle kompensierte, wären dies die düsteren Zeichen des Wandels vom leistenden Sozialstaat zum strafenden Staat (Bettinger / Stehr 2009, 252 ff.; Wacquant 2009, 292).

      Verhältnis öffentlicher und freier Träger

      Wird aus dem Subsidiaritätsgebot mit Blick auf den Leistungsempfänger das Gebot der Hilfe zur Selbsthilfe und das Prinzip der Nachrangigkeit (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII) begründet, so beinhaltet es andererseits einen grundsätzlichen Betätigungsvorrang der freien Träger (s. 4.1.2.2) vor den öffentlichen Sozialleistungsträgern (vgl. z. B. § 4 Abs. 2 SGB VIII, § 5 Abs. 4 SGB XII). Im Hinblick auf das Verhältnis von öffentlichen und freien Trägern muss allerdings auch festgehalten werden, dass das BVerfG in seiner Entscheidung von 1967 (BVerfGE 22, 180 f.) – übrigens ohne das Wort Subsidiaritätsprinzip zu erwähnen – von einer „durch Jahrzehnte bewährten Zusammenarbeit von Staat und freien Verbänden“ ausgegangen ist (sog. Korporatismus), eine Existenz wahrende Bestandsgarantie öffentlicher Einrichtungen formuliert sowie auf die Planungs- und Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger für die Bereiche der Jugendhilfe und Sozialhilfe hingewiesen hat (vgl. hierzu ausführlich Münder 1998).

      System der sozialen Sicherung

      Das System der sozialen Sicherung in Deutschland ist im Sozialrecht (hierzu III-1) geregelt und besteht im Wesentlichen aus vier Säulen, die unterschiedlichen Prinzipien folgen und sich im Hinblick auf Inhalt und Rechtsgrund der Leistung, den Bereichen und Trägern der Leistungen unterscheiden (s. Übersicht 9):

      ■ der Vorsorge durch die Sozialversicherungssysteme,

      ■ dem Versorgungssystem,

      ■ dem Förderungssystem,

      ■ dem Hilfesystem.

      Die Bedeutung des Sozialleistungsbereichs für die Volkswirtschaft ist immens. Die Leistungen des Sozialbudgets insgesamt beliefen sich Ende 2012 für Deutschland auf rund 760 Mrd. Euro. Das Verhältnis von Sozialleistungen zum Bruttoinlandsprodukt – die Sozialleistungsquote – hat sich allerdings von 31,3 % im Jahr 2009 auf 30,4 % im Jahr 2013 abgesenkt (vgl. www.destatis.de ➝ Sozialbudget) und ist damit niedriger als einige Jahre davor (z. B. 2000: 33,6 % bei insg. 681 Mrd. Euro; 2001: 33,8 % bei insg. 702 Mrd. Euro). Den größten Bereich machen die Renten aus, wie sich aus der nachfolgenden Aufstellung der Sozialleistungen nach Funktionen (ohne Verwaltungsausgaben) ergibt (vgl. www.destatis.de 8 / 2013):

      ■ Alter und Hinterbliebene: 292,7 Mrd. Euro

      ■ Krankheit und Invalidität: 294,74 Mrd. Euro

      ■ Arbeitslosigkeit: 42,3 Mrd. Euro

      ■ Kindergeld- und Familienleistungsausgleich: 41,5 Mrd. Euro

      ■ Kinder- und Jugendhilfe: 27,8 Mrd. Euro (2011), davon 18,5 Mrd. für KiTa und 7,8 Mrd. für erzieherische Hilfen und Schutzmaßnahmen

      ■ Sozialhilfe: 22,7 Mrd. Euro (2011)

      Zur Menschenwürde gehört mehr als die bloße Absicherung gegen die existenziellen Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit, Alter oder Arbeitslosigkeit. Zum Sozialstaat des Grundgesetzes gehört, dass