So knapp und geradezu einfach das Verhältnismäßigkeitsgebot auf den drei Stufen ausformuliert ist, so schwer scheint es Behörden bzw. öffentlichen Trägern mitunter zu fallen, die Grenzen staatlicher Befugnisse an dieser Grenze auszurichten, wie zahlreiche Entscheidungen des BVerfG und der europäischen Gerichte (EGMR und EuGH) dokumentieren. Es geht also nicht nur darum, jeweils den bloßen Wortlaut eines Gesetzes umzusetzen bzw. einzuhalten, sondern den freiheitlich-bürgerfreundlichen Gehalt der (europäischen und grundgesetzlichen) Rechtsordnung zu erkennen und mit einer entsprechenden Haltung gegenüber dem Bürger umzusetzen. Dies ist insb. auch für die Soziale Arbeit im Hinblick auf das asymmetrische Verhältnis zu ihren Klienten von besonderer Bedeutung. Das Verhältnismäßigkeitsgebot wird mitunter auch als Übermaßverbot („Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“; „Die Kirche im Dorf lassen“) bezeichnet, wobei dieser Aspekt vor allem im Hinblick auf die zweite und dritte Ebene des Verhältnismäßigkeitsgebots, also die Erforderlichkeit (im engeren Sinne) und die Angemessenheit hoheitlicher Maßnahmen, relevant ist.
Im Rahmen der Gesetzgebung hat der Gesetzgeber einen weiten (politischen) Bewertungs- und Entscheidungsspielraum. Freilich müssen auch hier im Hinblick auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, mithin die Auswirkungen neuer Regelungen, stets die zu dieser Zeit verfügbaren empirischen Fakten und fachlichen Beurteilungen berücksichtigt werden. Stellt sich die Bewertung empirisch als falsch heraus, muss die Regelung für die Zukunft unter Berücksichtigung eines Anpassungs- und Übergangszeitraums korrigiert werden (BVerfGE 25, 13, 17; 50, 335; 95, 314).
Während der abwehrende („negative“) Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgebots zur Begrenzung von Eingriffen und zur Zurücknahme des staatlichen Kontrollzugriffs verpflichtet, beinhaltet seine positive Seite die Verpflichtung des Staates, den Einzelnen hilfreich zu unterstützen, wenn seine Ressourcen und Kompetenzen zur sozialadäquaten Lebensbewältigung nicht ausreichen. In dieser Ausprägung spricht man vom Verhältnismäßigkeitsgebot zumeist als Subsidiaritätsprinzip (hierzu 2.1.3).
2.1.2.3 Rechtsschutzgarantie und Justizgewährungsanspruch
Justizgewährleistungsanspruch/-pflicht
Nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG steht jedem der Rechtsweg zu einem Gericht offen, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Ob das der Fall ist, haben dann letztlich die Gerichte zu prüfen (zur Rechtskontrolle vgl. ausführlich I-5). Damit verknüpft und aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet ist der sog. Justizgewährleistungsanspruch des Bürgers, zur umfassenden Wahrung seiner Rechte die staatlichen Gerichte in Anspruch nehmen zu können und von diesen eine Entscheidung in der Sache treffen zu lassen (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK). Dem entspricht (insb. mit Blick auf das Rechtsprechungs- und Gewaltmonopol des Staates sowie das Selbsthilfeverbot für den Bürger) auf der anderen Seite die Pflicht des Staates, für alle Rechtsverletzungen und Rechtsstreitigkeiten den gerichtlichen Schutz zur Verfügung zu stellen (Justizgewährleistungspflicht).
2.1.2.4 Gleichheitsgebot und Willkürverbot
Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Das Gleichheitsgebot ist im Rechtsstaat nicht als Gebot sozialer Gleichheit ausformuliert, sondern nur als Gleichbehandlung nach dem Gesetz. Das Gleichheitsgebot des GG überwindet deshalb nicht das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit (vgl. 1.2). Rechtspositivistisch gesehen verbietet das Recht – wie es der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France (1844 – 1924) formuliert hat – in seiner „majestätischen Gleichheit Reichen wie Armen unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“ (France 1919, 112).
Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt nicht, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes (s. Übersicht 8) ist nur verletzt, wenn der Staat einen Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten ungleich (und damit ungerecht und unfair) behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (Verbot der Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte, vgl. BVerfGE 74, 9 ff.). Deshalb hat das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3 GG schon vorweg festgelegt, dass der Staat niemanden aufgrund des Geschlechts, seiner Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen oder politischen Ansichten benachteiligen oder bevorzugen darf. Insoweit ist also eine unterschiedliche Behandlung durch staatliche Instanzen nicht gerechtfertigt.
Racial Profiling
Dies betrifft auch das sog. Racial Profiling (vgl. Cremer 2013, 11 f., 16 ff.). Hierbei handelt es sich um polizeiliche Personenkontrollen ohne Vorliegen eines Straftatverdachts, u. a. im Rahmen von §§ 22 Abs. 1a, 23 Abs. 3 BPolG, die nach äußerem Erscheinungsbild, insb. nach der Hautfarbe der Betroffenen, vorgenommen werden, damit aber gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen (OVG Rh-Pf 7 A 10532 / 12 – 29.10.2012).
Der Gleichheitsgrundsatz verbietet der Verwaltung jedes willkürliche Verhalten, d. h. nicht nur die nicht durch sachliche Unterschiede gerechtfertigte Ungleichbehandlung gleicher, sondern auch die nicht durch zulässige sachliche Gründe begründete Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände. Grob ausgedrückt: Gleiches soll gleich, Ungleiches kann und soll unterschiedlich behandelt werden. Beispielsweise verstößt die finanzielle Förderung einer (juristischen) Person, die anders als andere Leistungsempfänger die aufgestellten, z. B. landesrechtlichen, Förderrichtlinien nicht erfüllt, gegen Art. 3 GG. Hierin liegt freilich gleichzeitig ein Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung im Rahmen von Ermessensentscheidungen ist gegeben, wenn z. B. aufgrund eines im Haushaltsplan vorgesehenen Budgettitels eine Reihe von Antragstellern Zuwendungen erhalten haben (z. B. für Altenerholung, Mitarbeiterschulung), der Betrag aber verbraucht ist und nun andere leer ausgehen.
Mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist allerdings ausdrücklich auch die Möglichkeit eröffnet, mittels sog. positiver Maßnahmen (zuweilen wird auch, semantisch sicher wenig überzeugend, von „positiver Diskriminierung“ gesprochen) bestehende Ungleichheiten zu beseitigen (z. B. Frauenquoten). In ähnlicher Weise verbietet Art 3. Abs. 3 S. 2 GG nicht nur die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung, sondern erlaubt i. V. m. § 1 BGG eine bevorzugte Berücksichtigung von Bewerbern mit Behinderung auf einen Arbeitsplatz bei gleicher Eignung.
Die unterschiedliche Förderung von Familien (z. B. im Hinblick auf die kostengünstigere Teilnahme an Familienfreizeiten nach § 16 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII) durch das städtische JA aufgrund der Anzahl der Kinder oder von allein oder gemeinsam erziehenden Eltern kann durchaus mit Art. 3 GG vereinbar sein. Wenn ein städtisches Jugendzentrum seine Räume unterschiedlichen Jugendgruppen für deren (Vereins-)Treffen und Aktivitäten zur Verfügung stellt, darf der Antrag einer Gruppe von rechtsradikalen Jugendlichen auf Überlassung von Räumen für eine „Pogo-Party in geschlossener Gesellschaft“ nicht allein mit Bezug auf ihre verquere politische Weltanschauung abgelehnt werden. Eine Ablehnung wäre aber im Hinblick auf Art. 3 GG zulässig, wenn bei den früheren Veranstaltungen der Gruppe – und anders als bei anderen Gruppen – besonders viel Mobiliar zu Bruch ging, strafbares Verhalten angekündigt wird oder das JA generell Tanzveranstaltungen im Jugendzentrum mangels Interesses nicht mehr zulassen will.
Die von verschiedenen Gerichten gebilligte Behördenpraxis, die davon ausgeht, dass ein einmaliger Cannabiskonsum Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen begründet und die Einholung eines tief in den Persönlichkeitsbereich eingreifenden medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigt, während bei alkoholauffälligen Kraftfahrern ein derartiges Gutachten erst „nach wiederholten Verkehrszuwiderhandlungen unter Alkoholeinfluss“ eingeholt wird, hält das BVerfG für sachlich nicht gerechtfertigt (BVerfG 24.06.1993 – 1 BvR 689 / 92). In einer anderen Entscheidung hat das BVerfG (9.03.1994 – 2 BvL 43 / 92, 2 BvR 2031 / 92) aber im Hinblick auf die Strafbarkeit des Drogenbesitzes entschieden, dass Art. 3 GG es nicht gebiete, alle potenziell