Dem gegenüber wurde in der Religionsphänomenologie, die in |26|den 1930er bis 1950er Jahren zur vorherrschenden Richtung der Religionswissenschaft wurde, der Begriff der Religion wesentlich weiter gefasst. Den Ausgangspunkt dazu bildete der von Rudolf Otto (1869–1937) geprägte Begriff des Heiligen bzw. des Numinosen. Darauf aufbauend ging man davon aus, dass es einen gemeinsamen Grund für alle religiösen Vorstellungen in der Menschheitsgeschichte gäbe, und man betrachtete es als eine Aufgabe der Religionsforschung, diesen Grund aus der Vielzahl der religiösen Überlieferungen und Praktiken herauszudestillieren. Die eigene religiöse Erfahrung der Forschenden wurde dabei als ein wichtiges Instrument verstanden, um ein Gespür für den gemeinsamen Grund aller Religion entwickeln zu können. Weiter ging man davon aus, dass die Wirksamkeit des gemeinsamen Grundes aller Religion sich zeigen würde in einer Vielzahl von religiösen ›Phänomenen‹. Von diesen nahm man an, dass sie zwar hinsichtlich ihrer Einzelheiten in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten von Religion verschiedene Gestalten annehmen konnten, dass sie aber dennoch über Wesensmerkmale verfügten, die unabhängig von kulturellen Prägungen immer dieselben seien und ihren Ursprung letztlich im ›Heiligen‹ als dem gemeinsamen Grund aller Religion hätten. Unter diesem wissenschaftlichen Paradigma rückte das Konzept von ›Segen‹ sehr weit in das Zentrum dessen, worum es in der Religionsforschung ging, denn wie kaum ein anderer religionsvergleichend angewandter Begriff ist ›Segen‹ dazu geeignet zu veranschaulichen, was man unter einem religiösen ›Phänomen‹ im beschriebenen Sinne verstand.
Ab 1960 begann die Religionswissenschaft sich als eine kulturwissenschaftliche Disziplin neu zu formieren, die Religionen als zwischen Menschen kommunizierte Systeme von Bedeutungen versteht. Damit verbunden ist einerseits eine scharfe Abgrenzung gegenüber der Art, wie die Religionsphänomenologie den Grund aller Religion zum Gegenstand der Religionsforschung gemacht hatte, andererseits eine große Skepsis, was die Möglichkeit des Vergleichs zwischen religiösen Traditionen anbelangt. Unter dem neuen Paradigma wurde und wird die Bedeutung von religiösen Überlieferungen nur in Bezug auf den jeweils spezifischen kommunikativen Zusammenhang für interpretierbar gehalten, zu dem |27|sie gehört, während es als äußert problematisch gilt, Zusammenhänge dort herzustellen, wo sie von den Trägern der religiösen Überlieferung selbst nicht gezogen werden.
Wenn im Folgenden einige religiöse Bedeutungszusammenhänge vorgestellt werden, die sich für einen Vergleich mit israelitischen, jüdischen und christlichen Verständnissen von Segen anbieten, dann versteht sich dabei vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte, dass dies nicht bedeuten kann, nach einem über die verschiedenen religiösen Überlieferungen hinweg sich zeigenden ›Phänomen‹ zu suchen, das religionswissenschaftlich als ›Segen‹ bezeichnet werden könnte. Nach dem gegenwärtigen Selbstverständnis der Religionswissenschaft kommt der Begriff Segen für sie nicht mehr als ein wissenschaftssprachlicher Begriff in Frage, sondern nur noch als ein Begriff, der zur religiösen Sprache einiger Religionsgemeinschaften gehört, insbesondere derjenigen Gemeinschaften, die mit der Religion des alten Israel in einem Überlieferungszusammenhang stehen: Judentum, Christentum und Islam sowie einige der aus diesen hervorgegangenen neueren Religionsgemeinschaften.
Nach dem in diesem Kapitel verwendeten Verständnis von Religionsvergleich ist es über solche überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge hinaus möglich, die Bedeutungen von religiösen Überlieferungen unter dem Gesichtspunkt miteinander zu vergleichen, welche Stellung und Funktion sie innerhalb der religiösen Interpretation von menschlicher Wirklichkeitserfahrung einnehmen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die menschlich kommunizierten Bedeutungszusammenhänge, die wir gemeinhin als ›Religionen‹ bezeichnen, zumindest dies miteinander gemeinsam haben, dass sie zwischenmenschliche Verständigungen sind über das, was von Menschen als Wirklichkeit erfahren wird, und zwar insbesondere im Hinblick auf solche Erfahrungen, die es für Menschen möglich machen, Wirklichkeit als eine Ganzheit zu deuten.
Als Bezugsrahmen für das jüdische und christliche Konzept von ›Segen‹ kann die Erfahrung betrachtet werden, dass Menschen nur teilweise dazu in der Lage sind, für ihr eigenes Wohlergehen und für die Sicherung der Grundlagen ihres Lebens selbst Vorkehrungen zu treffen. Zum anderen Teil erfahren Menschen ihr Leben als abhängig |28|von Bedingungen, über die sie nicht selbst verfügen. Die Grenze zwischen beidem hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte durch den technischen Fortschritt zwar verschoben, zugleich aber hat der technische Fortschritt neue Aspekte von Unverfügbarkeit erfahrbar werden lassen.
2. Befunde aus der frühesten menschlichen Religionsgeschichte
Die Vorstellung, dass es außerhalb der Gemeinschaft lebender Menschen Mächte oder Wesen geben könnte, die Einfluss auf menschliches Wohlergehen auch in für Menschen unverfügbaren Bereichen hätten, gehört wohl mit zu den ältesten religiösen Vorstellungen überhaupt.
Für die Zeit seit etwa 40000 Jahren (d.h. die Epoche des ›Spätpaläolithikum‹) lässt sich archäologisch belegen, dass Menschen tierische oder pflanzliche Nahrung, die für sie eine wichtige Lebensgrundlage hätte darstellen können, verbrannten oder willentlich an Plätzen deponierten, wo sie der menschlichen Nutzung entzogen war (Müller-Karpe 1998, Bd. 1: 20). Ein solcher freiwilliger Verzicht auf Lebensressourcen ist nur erklärbar, wenn die handelnden Menschen sich davon zugleich einen Gewinn an Lebensressourcen versprachen.
Natürlich ist eine genaue Interpretation solcher Befunde problematisch, solange sie nicht durch einen Kontext von schriftlichen oder zumindest ikonographischen Quellen begleitet werden, die bei der Deutung mit herangezogen werden können. Dennoch legt die Kontinuität zu späteren weltweit verbreiteten Opferritualen es nahe, bereits für diese frühe Zeit Vorstellungen von Mächten oder Wesen anzunehmen, die durch eine Übertragung von Lebensressourcen dazu bewegt werden sollten, einen positiven Einfluss auf menschliche Lebensgrundlagen zu nehmen. Dies würde zumindest in einem weiten Sinne eine Analogie zu dem darstellen, was die jüdisch-christliche religiöse Terminologie als ›Segen‹ bezeichnet.
Ikonographische Quellen, die für die menschliche Religionsgeschichte ausgewertet werden können, gibt es seit ungefähr |29|30000 Jahren. Dabei sind die ältesten Funde einerseits Malereien, die vor allem im Schutz der Dunkelheit von Höhlen die Zeit überdauert haben, andererseits plastische Kunstwerke. Auffällig ist, dass sich die Themen dieser frühesten Kunst genau auf Aspekte konzentrieren, die für menschliches Leben und Überleben von grundlegender Bedeutung sind: Bei den frühesten bekannten Malereien begegnen als das häufigste Motiv Tiere, die von Menschen gejagt werden können und so eine wichtige Nahrungsgrundlage für sie bedeuten. Teilweise sind die Tiere in expliziten Jagdszenen dargestellt. Bei den Funden von Skulpturen aus derselben Epoche spielt daneben das Motiv menschlicher Fruchtbarkeit eine wichtige Rolle, indem Schwangerschaften zur Darstellung gebracht werden oder Geschlechtsmerkmale besonders hervorgehoben werden.
All diesen Funden fehlen allerdings ikonographische Hinweise auf ein Gegenüber, mit denen die Menschen in Austausch getreten wären, um eine Förderung der Grundlagen ihres Lebens zu erlangen. Die forschungsgeschichtlich ältesten Funde von frühgeschichtlichen Skulpturen in Menschengestalt wurden zwar im 19. Jahrhundert nach der Analogie von antiken Kultbildern selbstverständlich als Repräsentationen von Gottheiten gedeutet, doch mittlerweile besteht ein breiter Konsens darüber, dass sich figürliche Darstellungen erst sehr viel später in der Religionsgeschichte als Abbildungen von personalen Gottheiten deuten lassen (Ohlig 2002: 51f.).