In der islamischen Volksreligiosität wurde und wird die bei manchen Sufi-Scheichs besonders ausgeprägte Begabung zur spirituellen Führung und Heilung als eine baraka interpretiert, der eine geradezu physisch manifeste Kraft zugeschrieben wird, durch Übertragung Segen zu bewirken. Manche lebenden Sufi-Scheichs sind bereits von einem Nimbus umgeben, Träger von ›baraka‹ in diesem Sinne zu sein. Noch mehr wird es verstorbenen Sufi-Scheichs zugeschrieben, dass die baraka am Ort ihres Grabes gegenwärtig sei. Teilweise handelt es sich bei diesen Gräbern um Schreine, in deren Zentrum ein Sarkophag steht. Einen mindestens analogen Stellenwert haben die Gräber von Propheten, die in den Kernländern des Islam zahlreich zu finden sind, und die Gräber von wichtigen Gestalten des frühen Islam.
Menschen pilgern zu den Gräbern von Propheten, Heiligen und Sufi-Scheichs, teilweise um für ihr spirituelles Leben der dort anwesenden baraka teilhaftig zu werden; teilweise auch, um Heilung von körperlichen oder seelischen Krankheiten zu erfahren oder um einen lange erfolglos gehegten Kinderwunsch endlich erfüllt zu bekommen.
All diese Praktiken und Deutungen sind jedoch im Islam hochgradig umstritten. Die orthodoxen Schulen der islamischen Gelehrsamkeit stehen ihnen mit großer Zurückhaltung gegenüber. Im 18. Jahrhundert entstand auf der Arabischen Halbinsel die Bewegung der Wahhabiten, die sich auf die in diesem Punkt schon lange zuvor besonders strenge Rechtsschule der Hanbaliten und auf die Lehren von Ibn Taymiyya (1263–1328) beruft. Die Wahhabiten begegneten der volksreligiösen Interpretation von ›baraka‹ und den |39|daraus hervorgegangenen Praktiken mit offener Feindschaft und teilweise auch mit Gewalt gegen Schreine von Sufi-Scheichs und gegen andere heilige Orte, an denen die Wahhabiten ein aus ihrer Sicht missbräuchliches Pilgerwesen wahrnahmen. Da die Lehre der Wahhabiten im offiziellen Islam des Königreichs Saudi-Arabien aufgegriffen wurde und von dort aus im Rahmen von gut finanzierten Projekten in die gesamte islamische Welt exportiert wird, nimmt ihre Bedeutung für den weltweiten Islam gegenwärtig stark zu, während Sufismus, Volksfrömmigkeit und die in ihrem Zusammenspiel beheimatete Deutung von ›baraka‹ in entsprechendem Maße zurückgedrängt werden.
7. Gegenentwurf: Das indische Konzept des Karma
Eine interessante Gegenposition zur Vorstellung von ›Segen‹ in den Religionen westasiatischer Herkunft bildet das indische Konzept des ›Karma‹: diesem zufolge ist die Unverfügbarkeit des menschlichen Wohlergehens nur eine scheinbare, die dadurch zustande kommt, dass der größere zeitliche Zusammenhang verkannt wird, in dem das einzelne menschliche Leben steht (und auch das Leben jedes anderen Lebewesens). Jedes gegenwärtige Leben gilt als ein Glied in einer schier endlos langen Kette von aufeinanderfolgenden Wiedergeburten (saṃsāra). In Verbindung mit saṃsāra beschreibt Karma (Sanskrit: karman) das Gesetz, nach dem sich die Qualität der einzelnen Wiedergeburten richtet: für jedes Lebewesen gibt es eine Bestimmung, die es in dieser Welt zu erfüllen hat. Bei Menschen richtet sich diese Bestimmung nach der Zugehörigkeit zu einer Kaste und nach dem Geschlecht. Jede Handlung, die in Übereinstimmung mit der jeweils eigenen Bestimmung vollzogen wird, bewirkt gutes Karma; jede Handlung, die der Bestimmung eines Lebewesens zuwiderläuft, bewirkt schlechtes Karma. Es geht also beim Gesetz des Karma nicht darum, dass Handlungen als solche ›gut‹ oder ›schlecht‹ sind, sondern solche Bewertungen können nur im Verhältnis dazu getroffen werden, wer die Handlung vollführt. Von den männlichen Angehörigen der Kriegerkaste wird erwartet, dass sie im Krieg Tapferkeit zeigen und bereit sind, zu töten. Für |40|einen Mann aus der Priesterkaste dagegen würde es schlechtes Karma bewirken, Gewalt gegen Lebewesen auszuüben. Sowohl gutes als auch schlechtes Karma wird über die Kette der Wiedergeburten hinweg angesammelt. Je mehr gutes Karma angesammelt wurde, desto besser und angenehmer ist die Existenz, in die ein Wesen wiedergeboren wird. Je mehr schlechtes Karma angesammelt wurde, desto schlechter und unangenehmer wird die Existenz, in die das Wesen wiedergeboren wird. Demnach ist Wohlergehen also weder ›Zufall‹ noch die Wirkung eines ›Segens‹, der von Gottheiten, Geistern oder Ahnen ausgeht, sondern jedes Lebewesen hat es sich letztlich selbst zuzuschreiben, ob es ihm wohl ergeht oder ob es leidet. Bei einem streng angewandten und als ausschließliche Erklärung für den Gang der Welt genutzten Karma-Prinzip bleibt für Vorstellungen von ›Segen‹ oder für Entsprechungen dazu kein Platz.
Allerdings wird der Gedanke des Karmas nicht überall, wo er eine Rolle spielt, in dieser Konsequenz zur Geltung gebracht. Im Rahmen der Vielfalt von indischen religiösen Vorstellungen und Praktiken, die in der westlichen Terminologie als ›Hinduismus‹ zusammengefasst werden, ist es insbesondere die südindische Tradition des bhakti, die durchaus wieder mit ›Segen‹ vergleichbare Vorstellungen mit dem Karma-Gedanken verbindet. Bhakti bedeutet die ganzheitliche Hingabe des Menschen an eine Gottheit. Dies kann sich beispielsweise im liebevollen Gedenken, in der Anrufung des Namens, im tätigen Dienst oder in der Rezitation bzw. dem ›Chanten‹ von Mantras äußern. Bhakti versteht sich als ein Weg der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) in die immerwährende Gemeinschaft mit Gott. Dabei hängt es dann letztlich nicht mehr von selbst erworbenem gutem Karma ab, ob Erlösung sich realisiert und der Zustand ewiger Glückseligkeit erreicht wird, sondern dies ist das Geschenk der Gottheit an ihre liebevollen Verehrerinnen und Verehrer. Auch das innerweltliche Wohlergehen der Bhakti-Anhänger wird in vieler Hinsicht als Geschenk der Gottheit verstanden, wenngleich die Traditionen von saṃsāra und Karma dabei nicht völlig verleugnet werden. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste spielt jedoch längst nicht eine so große Rolle wie in anderen Richtungen des Hinduismus. Es gilt nicht in demselben Maße als ausgrenzend, einer niedrigen Kaste anzugehören, |41|und es ist viel eher möglich, dass hochkastige und niedrigkastige Männer und Frauen gemeinsam die Traditionen des bhakti praktizieren. Im modernen Hinduismus ist ›bhakti‹ nicht mehr nur die Praxis gesonderter Gruppierungen, sondern wird teilweise als ein notwendiger Bestandteil von hinduistischer Praxis überhaupt beschrieben. Dies hat dazu beigetragen, dass die in den Traditionen des bhakti enthaltene Abmilderung der Kastengrenzen sich auch auf breitere Kreise der Gesellschaft auswirken konnte.
8. Gegenentwurf und Analogie: Buddhismus
Der Buddhismus entstand in Indien zeitlich parallel zu den später als »Hinduismus« zusammengefassten religiösen Strömungen und geht ebenfalls von den Prinzipien des karman und des saṃsāra aus. Auch aus der Sicht des frühen Buddhismus stellt sich das irdische Wohlergehen von Lebewesen nicht als etwas dar, das in erster Linie vom Wohlwollen einer Gottheit oder von Geistern abhängig wäre, sondern als etwas, das dem Gesetz des Karmas unterliegt. Stärker allerdings als irgendeine Richtung des Hinduismus stellen die Lehren des Buddha heraus, dass ein nachhaltiges Wohlergehen in dieser materiellen Welt überhaupt nicht erwartet werden kann, sondern dass jede Existenz unter den Bedingungen des saṃsāra leidhaft verfasst ist – selbst für die Träger von ›gutem‹ Karma. Der Grund dafür liegt darin, dass es nach der buddhistischen Lehre kein ›Sein‹ gibt, das von Dauer gekennzeichnet wäre, sondern nur Werden und Vergehen. Jedes Werden und Vergehen erzeugt Leiden: unliebsame oder unangenehme Zustände sind unmittelbar mit ihrem Entstehen leidhaft, während liebgewordene oder angenehme Zustände durch ihr Vergehen Leid verursachen.
Unter den vom Buddhismus beschriebenen Bedingungen macht ›gutes‹ Karma es durchaus wahrscheinlicher, dass vorübergehend angenehme Zustände eintreten, die äußerlich so aussehen wie das, was die israelitische Tradition als ein ›gesegnetes‹ Leben beschreiben würde. Damit steigt aber auch die Herausforderung, sich nicht von diesen Zuständen abhängig zu machen – keine ›Anhaftung‹ an sie