Angesichts dieser aktuellen lebensweltlichen Bestandesaufnahme ist es meines Erachtens durchaus angemessen, wenn Magdalene L. Frettlöh bereits vor einiger Zeit eine »wachsende[.] Segensbedürftigkeit menschlicher Lebenssituationen« diagnostiziert hat (Frettlöh 2005: 13; s.a. 15), die es auch theologisch zu bearbeiten gilt. Diesbezüglich ist das Interesse der theologischen Disziplinen, wie auch die folgenden Fachbeiträge belegen, seit rund zwei Dutzend Jahren gestiegen, und es sind in verschiedenen Fächern eine Reihe von teilweise grundlegenden Arbeiten vorgelegt worden, |9|sodass inzwischen eine erfreuliche wissenschaftliche Sensibilität und Intensität erreicht ist.
2. Hermeneutisch-theologische Vertiefungen und Problemanzeigen
Bevor im Folgenden die fachspezifischen Beiträge die Segensthematik detaillierter auffächern, sollen in aller Kürze einige grundlegende hermeneutisch-theologische Vertiefungen und Problemanzeigen die exemplarischen Annäherungen aufnehmen und weiterführen.
Die einleitenden Beispiele für Segen und Segensvorstellungen haben deren durchgängige Bezogenheit auf ein gelingendes Leben – wie immer es konkret bestimmt wird – bestätigt und in vielfältigen Konkretionen illustriert. Stellt Segen mithin in der Tat ein Grundthema von Religion und Kultur dar, so ergibt sich eine Affinität zur – wiederum vielfältig konkretisierbaren – Grundfunktion von Religion und Kultur, wie sie der gegenwärtig wohl leistungsfähigste funktionale Ansatz der Religionswissenschaft bestimmt: Demnach lassen sich Religion und Kultur im Kern als Weisen der Komplexitätsreduktion bzw. Kontingenzbewältigung verstehen.
In funktionaler Perspektive kommen Religion und Kultur damit nicht im Blick auf ihre Inhalte oder gar ihr ›Wesen‹ zur Sprache, sondern sie werden pragmatisch in Bezug auf ihre Leistungen und Funktionen wahrgenommen. In dieser Perspektive stellen Religion und Kultur die Anpassungsarbeit des Menschen an seine ›Umwelt‹ dar. Weil dies durch religions- und kulturspezifische Symbolisierungsprozesse erfolgt, welche die Wirklichkeit stets selektiv darstellen und damit immer auch deuten, kann man mit Niklas Luhmann die grundsätzliche Komplexitätsreduktion akzentuieren, welche die religiös und kulturell symbolisierte Wirklichkeit vornimmt (Luhmann 1982: 13f.77–84). Oder man spricht, meines Erachtens noch weiter führender, mit Hermann Lübbe von einer Kontingenzbewältigungspraxis und bestimmt die im Folgenden im Zentrum stehende Religion als Bewältigungspraxis absoluter, »handlungssinntranszendenter Kontingenz« (Lübbe 1998: 40.43); dabei ist freilich in Bezug auf einen rein funktionalen Ansatz kritisch anzumerken, |10|dass hier unter der Hand doch wieder ein bestimmter inhaltlicher Religionsbegriff eingeführt zu werden scheint (s. dazu Lübbe 2004: 149–159). Wie dem auch sei, nach diesem funktionalen Modell zielen die kulturelle Arbeit und insbesondere die religiösen Überzeugungen und Handlungen darauf, mit den Unwägbarkeiten und Unvorhersehbarkeiten des menschlichen Lebens produktiv umgehen und mithin das Unverfügbare symbolisch ›verfügbar‹ machen und derart ›bewältigen‹ zu können. Wichtig ist dabei, dass diese ›Bewältigung‹ keineswegs naiv impliziert, die Kontingenz könne eliminiert werden; diese wird im Gegenteil (mehr oder weniger bewusst) ausgehalten und – gegenüber Verdrängungs-, Negierungs- oder Überwindungsstrategien potentiell durchaus kritisch – anerkannt: »Bewältigte Kontingenz ist anerkannte Kontingenz« (Lübbe 2004: 166) und Religion entsprechend »Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren« (ebd.: 150). In diesem Sinn lassen sich Religion und Kultur meines Erachtens plausibel als Kontingenzbewältigung verstehen.
Bei der Segensthematik mit ihrer Ausrichtung auf das gelingende Leben verdichtet sich die Problematik, Herausforderung und Bewältigung der Kontingenz offenkundig in ebenso paradigmatischer Weise, wie es in den sogenannten schwierigen Bibeltexten und ihrem Ringen mit den ›dunklen‹ Seiten Gottes (und entsprechenden Lebenserfahrungen) der Fall ist (s. dazu jetzt Janowski 2014 sowie die Übersicht von Hartenstein 2013).
Dazu trägt zum Einen die für nahezu alle Segensvorstellungen charakteristische Fokussierung auf eine diesseitige Erfüllung bei: Gesegnetes und gelingendes Leben muss sich in aller Regel – wie immer es (namentlich in den abrahamitischen Religionen) zu Jenseitsvorstellungen ins Verhältnis gesetzt wird (s. dazu u. Rosenau, in diesem Band S. 177–182) – im irdischen Leben realisieren, sodass diesseitige Lebenssicherungen und -steigerungen im Zentrum stehen. Für den alten Orient, dem auch die Ursprünge der biblischen Segensvorstellungen angehören, hat Claus Westermann den Sachverhalt klassisch auf den Punkt gebracht: Man muss »sich als den den Erlösungsreligionen voraufgehenden Grundtyp eine Religion vorstellen, in der es […] um die Förderung, Stärkung, Sicherung des natürlichen Daseins in der natürlichen Welt [geht]. In solch |11|einer Religion ist Segen oder etwas dem Segen Entsprechendes der Hauptbegriff und der Hauptvorgang« (Westermann 1968: 44). Ähnliches ließe sich für viele weitere religionsgeschichtliche Kulturbereiche zeigen – auch wenn es Alternativen gibt (s. dazu u. Feldtkeller, in diesem Band S. 39–46) –, und es gilt offensichtlich auch für die rezenten Beispiele, die oben erwähnt wurden. Segen und Segensvorstellungen ›bewältigen‹ Kontingenz mithin so, dass alle menschlichen, weltlichen und göttlichen Kräfte bemüht werden, um Wohl und Heil im Diesseits zu erlangen, zu erhalten und zu befördern.
Zum Anderen wird bei der Segensthematik die Bewältigung der Kontingenz und die Reduktion von Komplexität auch dadurch besonders plastisch greifbar, dass ein dezidiert anthropozentrisches Wirklichkeitsverständnis entwickelt wird: Die Erlangung des göttlichen oder menschlichen Segens zielt auf die diesseitige, leibseelische Steigerung des menschlichen Lebens, und diesem Zweck dienen letztlich auch die Segnungen der sozialen, tierischen, pflanzlichen und kosmischen ›Umwelten‹ bzw. Lebenswelten. »Segen gibt es demnach nicht an sich, sondern nur für jemanden«, wie Hartmut Rosenau festhält (s.u. Rosenau, in diesem Band S. 168, S. 173–175). Damit wird letztlich die gesamte Wirklichkeit in bestimmter und mithin reduktiver Weise verstanden: Sie wird vom Segen erstrebenden Menschen in Gebrauch genommen und als ihm im Bemühen um Bewältigung seiner kontingenten Existenz zuhandene ›Umwelt‹ perspektiviert (ohne zu einem hypertrophen Anthropomonismus zu entarten). Theologisch lässt sich das folgendermaßen würdigen: »Segen ist […] die umfassende Ermächtigung zu gelingendem Leben« (Häusl/Ostmeyer 2009: 515). Dieses anthropozentrische Wirklichkeitsverständnis ist mit Absicht skizzenhaft und aus heutiger Sicht durchaus (zu) einseitig umrissen worden, um es scharf hervortreten zu lassen. Denn bei allen Missverständnissen und Missbräuchen, die insbesondere die Rezeptionsgeschichte in der westlichen Welt seit dem Zeitalter der Technologisierung aufweist und die bei aktuellen Rückbezügen eine sorgfältige materiale Abwägung erfordern, gilt es meines Erachtens in aller Deutlichkeit festzuhalten: Diese anthropozentrische – aber nicht anthropomonistische – Perspektive ist bewusst zu halten und zu reflektieren, |12|sie bleibt aber für den Menschen letztlich unhintergehbar; und dies betrifft nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern in vergleichbarer Weise auch die Naturwissenschaften, für die das sogenannte (schwache) anthropische Prinzip von fundamentaler Bedeutung ist. Die Segensthematik mit ihrem Ausgriff und Zugriff auf die ›Umwelt‹ außerhalb des Segensempfängers fußt also auf einer dezidiert anthropozentrischen Perspektive, erlaubt und erfordert aber bei der Konzipierung aktueller Segenstheologien einen reflektierten und verantworteten Umgang damit, wenn denn segenstheologische Reduktionen der Komplexität und Bewältigungen der Kontingenz weiterhin Plausibilität und Evidenz erzeugen sollen.
Aufs Ganze stellen Segen und Segensvorstellungen mit ihrer durchgängigen Bezogenheit auf gelingendes Leben ein Grundthema von Religion und Kultur dar, das – in funktionaler und komparativer Perspektive – als eine paradigmatische Weise des erfolgreichen Umgangs mit der komplexen und kontingenten Unverfügbarkeit menschlicher Existenz verstanden werden kann.
3. Überblick über die Beiträge des Bandes
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