Unternimmt man es entsprechend, hierzulande die aktuell aufschlussreichsten Segens-Phänomene zu überblicken, kann man etwa folgende, pragmatisch und nicht programmatisch orientierte Zusammenstellung vornehmen:
Im christlichen Bereich weithin bekannt, aber gerade evangelischerseits in jüngerer Zeit wieder mehr geschätzt sind die zahlreichen gottesdienstlichen, seelsorgerlichen und schulischen Vollzüge, auf die an dieser Stelle nicht näher einzugehen ist (s. ausführlich u. |5|Wagner-Rau, in diesem Band S. 187–209; Wagner-Rau 2008; Kluger 2011).
Eine vergleichbare Breite lässt sich auch für die jüdische Religionspraxis konstatieren, wobei vorab die jüdischen Segenssprüche (Berachot) hervorgehoben seien, die – biblische Ursprünge fortführend – in mischnischer Tradition (s. bereits den Traktat ›Berachot‹ im babylonischen Talmud) den gesamten Lebensvollzug engmaschig durchweben (s. dazu Homolka 2004; s.u. Hamidović, in diesem Band S. 97f). Die so die Menschen in ihren – durchaus materiellen, sich etwa von der Nahrung bis zum Land erstreckenden – Lebensverhältnissen vor Gott dankbar würdigenden Berachot entfalten nicht nur eine nachhaltige, sondern auch die Wirklichkeit verändernde Perspektive, indem die Güter und Objekte als verdankte und nicht als bloß selbst hergestellte in einen neuen, theologisch reflektierten Gebrauch genommen werden.
Eine ähnliche, weit über den Gottesdienst hinaus in Religion und Gesellschaft ausstrahlende Segenskultur findet sich auch in der christlichen Tradition (s.u. Spehr, in diesem Band S. 143f., 146f., 158); sie bleibt jedoch ungleich weniger umfassend ausgeführt und systematisiert, sodass einige Beispiele mit knappen Erläuterungen angeführt seien:
Weit verbreitet ist das auch in profanen Kontexten gern für Geburtstagskinder gesungene Segenslied: »Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Frohsinn/Freude/Wohlstand sei auch mit dabei«. Es beginnt mit dem Wunsch nach – erfahrungsgemäß menschlicherseits unverfügbarem – Lebensglück für das Individuum und fährt dann mit bezeichnenden Variationsmöglichkeiten fort, die den Segen je nach Präferenz und (wohl auch biographischer) Situation stärker innerlich oder materiell spezifizieren. Dabei kann der religiöse Gehalt im engeren Sinn, der von den kommunikativen Akteuren mit dem anlassbezogenen Segen verbunden wird, überaus stark variieren. Diese Situationsverhaftetheit bei gleichzeitiger Deutungsoffenheit stellt ein Charakteristikum vieler Segensvollzüge dar, wie sich im Folgenden gleich mehrfach zeigt.
Deutlich gilt dies beispielsweise für den Reisesegen, wie er namentlich aus der irischen Tradition bekannt ist und sich heute in zahlreichen Variationen wieder großer Beliebtheit erfreut:
|6|May the road rise up to meet you.
May the wind always be at your back.
May the sun shine warm upon your face,
And rains fall soft upon your fields.
And until we meet again,
May God hold you in the palm of His hand.
Gerade in höchst mobilen Gesellschaften brechen aus Anlass kleinerer oder größerer (in der Regel freilich gut durchgeplanter und abgesicherter) Reisen grundsätzlichere Unwägbarkeiten jeden Lebens hervor, aber die Grundmetapher des Lebens als eines Weges ermöglicht auch breitere (und grundsätzlichere) Rezeptionsmöglichkeiten.
Mit Bezug auf den Segensgehalt zielt der Heilungssegen auf das basale leibliche Wohlergehen für den einzelnen (verletzlichen) Menschen: »Heile, heile Segen …«. Der gern magisch (miss)verstandene, meist für Kinder gesprochene bzw. gesungene Vers ›funktioniert‹ aufgrund seiner einfachsten Ritualstruktur sehr effizient, wie wohl jeder aus eigener Erfahrung weiß. So gelingt die Rückkehr aus einer prekären Notlage zurück in einen geordneten und intakten Lebensvollzug, lässt sich die exzeptionelle Leidsituation lebensgünstig meistern. Auch wenn es dabei in der Regel um sehr banale Vorfälle geht, verdichtet der Vers doch sehr prägnant die Erfahrung, dass Krankheit/Unfall/Not oft eine Ausnahmeerfahrung darstellt, die in eine Lebensordnung einbricht, aber von begrenztem Umfang bleibt und über kurz oder lang (man denke an die variierenden Bestimmungen von ›böser‹ und ›guter‹ Zeit, etwa ›drei Tage‹ oder ›hundert Jahre‹) wieder in ein intaktes Leben mündet. Hier wird ein typischer Sitz im Leben von Segen mit Händen greifbar: Wo das Leben angesichts von Mangel, Leiden und Not fragil wird, zielt der Segen auf (erneute) Lebenssteigerung.
Eine erste Ausweitung über das meist im Zentrum stehende Individuum hinaus auf die Kernfamilie belegt der Haussegen, wie er etwa von katholischen Sternsingern jährlich gespendet und mit Kreide angebracht wird (CMB: Christus mansionem benedicat: »Christus segne das Haus«) oder wie er an manchen Walliser Gebäuden bis heute permanent als Inschrift zu lesen ist: »Segne, Gott, dieses Haus / und die gehen ein und aus«. Wiederum werden die |7|Menschen bzw. die familiäre Gemeinschaft in ihren elementaren häuslichen Lebensverhältnissen wahrgenommen. Dabei mag man an die gerade hier sichtbar werdenden Herausforderungen des menschlichen Zusammenlebens in aller Breite denken; unübersehbar präsent ist jedoch auch die materielle Dimension prosperierenden Lebens.
Wenn dabei auch ökonomisches Gedeihen als konstitutiver Bestandteil von Segen wahrgenommen wird, so beruht dies auf einer (altorientalischen und) biblischen Grundoption, der in der Neuzeit etwa in der reformiert-calvinistischen Tradition – man denke an den sogenannten syllogismus practicus, der in populären Vereinfachungen die göttliche Erwählung am materiellen Wohlstand ablesen zu können glaubt(e) – besondere Bedeutung zugemessen wurde (s. dazu Spehr, in diesem Band S. 156f.). Diese grundsätzliche Dimension des materiellen Segens gilt es auch heute in einer globalisierten und ökonomisch geprägten Welt festzuhalten, ohne damit deren Einseitigkeiten und Auswüchse in irgend einer Weise legitimieren zu wollen. Allerdings stellen sich hier hochkomplexe wirtschaftsethische Fragen, die im vorliegenden Rahmen nicht einmal ansatzweise angesprochen werden können. An dieser Stelle kann es nur darum gehen zu notieren, dass mit dem Thema Segen der Mensch in seinem ganzheitlichen, leibseelischen Wohlergehen wahrgenommen wird, das alle seine Lebensverhältnisse einschließt.
Und dazu zählt auch – was gleichfalls eine biblische Grundoption darstellt – der Weltbezug des Menschen. Biblisch-theologisch hat dies seinen berühmtesten und berüchtigtsten Ausdruck im von Gott gespendeten Schöpfungssegen gefunden (s.u. Leuenberger, in diesem Band S. 55f.), der in den letzten Jahrzehnten unter dem (verkürzenden) Schlagwort der »Bewahrung der Schöpfung« ein vielfältiges Echo gefunden hat (s. nur Schmid 2012: 1–3). Ein relativ harmloses, aber dennoch interessantes Beispiel findet sich in einem als »freundlicher Hinweis« überschriebenen Verhaltensappell an Wanderer im Teutoburger Wald bei Riesenbeck, der seine Aufforderungen zu sorgsamem Umgang abschließend wie folgt begründet bzw. motiviert:
Alles was im Wald zu sehen ist,
ist vom großen Gott gesegnet!
|8|Und auch Du seist gottgesegnet,
wenn Du folgsam umweltfreundlich bist!
Angesichts des gesellschaftlichen Kontextes ist es doch bemerkenswert, wie unvermittelt affirmativ hier ein Schöpfungs- bzw. Waldsegen – in Begründungsfunktion eines klar spezifizierten Verhaltens – auftritt und formuliert wird, wobei bezeichnenderweise der »große Gott« trotz christlichen Untertons durchaus auch interreligiös anschlussfähig sein kann. Und während das überdeutliche, explizite ›gottgesegnet‹ wohl metrisch bedingt ist, präsentiert sich der konditionierte Segenswunsch außerordentlich auffällig, stellt er doch gleichsam eine deuteronomistische Aktualisierung dar (s.u. Leuenberger, in diesem Band S. 60–62).
Zusammenfassend ergeben die genannten Beispiele, die sich unschwer vervielfachen ließen, folgende erste Einsichten: Segen ereignet sich in aller Regel als Segnung bzw. Segensvollzug in vielfältigsten alltäglichen bis feierlichen Begegnungssituationen, sodass ein klassisches Übergangsritual (rite de