Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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Die Erkennung und Beseitigung dieser im Individuum liegenden Ursache führt zur Therapie (Bundschuh 2019, 47–49).

      Tab. 2: Gegenüberstellung Einweisungsdiagnostik – Förderdiagnostik

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      Abgelöst wird diese Diagnostik, die Defizite und Störungen in der Person selbst sucht, durch eine an soziologische und sozialwissenschaftliche Gedanken orientierte Vorgehensweise, d. h. verursachende Momente einer Störung (Schulversagen, Verhaltensstörungen) werden vor allem im Kommunikationsbereich des Individuums gesucht, z. B. im Familienmilieu, im Bereich der Schule, in der sozialen Umwelt überhaupt durch Etikettierungs-, Stigmatisierungsprozesse und durch Rollenzuweisung („er ist aggressiv, unruhig, faul“; „er geht aus dieser Familie hervor“, „er kommt aus dieser Gegend“). Systeme können behindern (Bundschuh 2019, 64 ff.; 2008, 326–331).

      Der Gegenstandsbereich der sonderpädagogischen Diagnostik steht in enger Beziehung zu in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, physischen Entwicklung gefährdeten oder beeinträchtigten Personen, wobei stets der Interaktions- und Umweltbereich impliziert ist. Zumeist wird es sich dabei um Kinder / Schüler handeln, die sonder- und heilpädagogische Diagnostik kommt jedoch auch bei Personen aller Altersgruppen zur Anwendung, Handlungsbedarf liegt jedenfalls im Kontext Beeinträchtigungen / Behinderungen – vor allem mit zunehmendem Alter – vor.

      Die Aufgaben fordern vom Sonder- und Heilpädagogen neben einer Kenntnis der Entwicklungsprozesse (Bundschuh 2008, 87–168) Informationen über Verursachungsmomente, Bedingungen und Formen von Beeinträchtigungen sowie Möglichkeiten der Förderung und Therapie (Bundschuh 2008, 242–302).

      Die ursprünglich als Hauptaufgabe gesehene Diagnose als Entscheidung für bestimmte Maßnahmen meist selektiver Art wird abgelöst durch den Prozess der Förderung. Diagnose und Förderung können nicht mehr getrennt gesehen werden, stellen eine Einheit dar und müssen permanent unter Einbezug der Umwelt und deren Interaktionen als Prozess stattfinden. Somit müssen die Tendenzen, im pädagogischen Bereich von einer Selektionsstrategie zu einer Modifikationsstrategie zu kommen, verstärkt und weiterentwickelt werden.

      Der Sonderschullehrer trug mit „seiner Diagnose“ und Entscheidung „Sonderschulbedürftigkeit“ ein kaum vertretbares Maß an Verantwortung. Sollte sich der Gedanke der Förderdiagnostik auch im schulbürokratischen und schulbehördlichen Bereich hinsichtlich mehr Offenheit, Flexibilität und Dynamik auch hinsichtlich der Frage nach der Integration weiter durchsetzen, werden sich die Probleme, die sich bisher im Rahmen der „Überprüfung auf Sonderschulbedürftigkeit“, jetzt Förderschulbedürftigkeit bzw. Frage nach dem individuellen Förderbedarf, ergaben, erheblich neutralisieren. Sonderpädagogische Diagnostik erhält ihre Legitimation nur aus den Aspekten Verstehen und Förderung (Bundschuh 2007, 77–144), sie darf keinesfalls statischen, vielmehr nur dynamischen Charakter haben.

      Alternativmodelle zur herkömmlichen Diagnostik orientieren sich in hohem Maße am schulischen Geschehen (Verhalten, Lernziele, Curricula). Es zeigt sich, dass es eine Reihe von Ansätzen gibt, die zahlreichen Probleme einer traditionellen Diagnostik, die sich weitgehend als statische Diagnostik, Selektionsdiagnostik, Merkmals- und Eigenschaftsdiagnostik erwiesen hat und somit eher Festschreibungen und defizitäre Beschreibungen im Zusammenhang mit sonder- oder heilpädagogischen Problemstellungen lieferte (anstelle von Förderungsimpulsen), zu überwinden.

      Mit der Veränderungsdiagnostik verfolgt man das Ziel, durch den Vergleich zweier oder mehrerer Zustände im Zeitverlauf eine Aussage über Veränderungen oder Stabilität von Merkmalen zu treffen. Unter pädagogischem und psychologischem Aspekt betrachtet geht es dabei meist auch um einen Prozess zwischen Ist- und Sollzustand. In der Regel wird die erzielte Veränderung als Folge eines natürlichen Prozesses (z. B. Wachstum, Reifung, Lernen), einer Intervention (z. B. pädagogische Förderung, Psycho- oder Pharmakotherapie) oder situationsbedingter Variabilität (z. B. Tagesereignisse) interpretiert. Vorhaben zur Veränderungsdiagnostik setzen gezielte Annahmen über Entwicklungs- und Interventionsverläufe sowie Situationseinflüsse voraus. Diese Annahmen können nur überprüft werden, wenn adäquate, veränderungssensitive Erhebungsverfahren vorliegen, die Veränderungen – zuverlässig – abbilden können. Letztlich hängt die Entscheidung darüber, wann und wie oft eine Verhaltensweise bzw. auch ein Merkmal im Verlauf einer Zeitspanne erhoben werden soll, von bestimmten Annahmen über Entwicklungen und den damit zusammenhängenden psychologischen Prozessen ab, die erfasst werden sollen.

      Die neueren Entwicklungen führen weg von der statischen, indirekten Vorgehensweise über den Einbezug behavioristischer, sozialwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und anthropologischer Einflüsse im weiten Sinne hin zu einer lernorientierten, „direkten“ Diagnostik. Häufig bestand nur Interesse an dem, was „ist“, im weitgehend statischen Sinn (Persönlichkeitsmerkmale und -eigenschaften). Dieser Aspekt erweitert sich nun in Richtung was „soll“, und wie dieses „Soll“erreicht werden kann. Der Schwerpunkt der neueren Ansätze liegt auf dem Moment der Information zwecks Handeln und Förderung, d. h., intendiert wird primär der Fortschritt der Persönlichkeit durch Erweiterung der Handlungskompetenz (Bundschuh 2008, 218–224; 2019).

      Die Psychologische Diagnostik ist eng mit anderen Teildisziplinen der Psychologie vernetzt. Die Entwicklung psychodiagnostischer Methoden und Erhebungsstrategien im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld wird in hohem Maße von diagnostischen bzw. förderdiagnostischen Fragestellungen beeinflusst. Um dieses große Aufgabengebiet bewältigen zu können, bedarf es der engen Verbindung insbesondere zur Entwicklungspsychologie, der Pädagogischen Psychologie (Frage nach dem Lernen und Lernstörungen), der Klinischen Psychologie (Psychotherapien können zur Aufarbeitung und Beseitigung sozialer und emotionaler Störungen beitragen), der Medizinischen Psychologie und der Sozialpsychologie (Analyse der Kind-Umfeld-Bedingungen).

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      Abb. 1: Querverbindungen heilpädagogischer Diagnostik (Bundschuh 2008, 239)

      Die Abb. 1 zeigt die Bedeutung der Förderdiagnostik im sonder- und heilpädagogischen Erziehungs- und Arbeitsfeld auf. Förderdiagnostik leistet einen Beitrag zum besseren Kennenlernen und Verstehen von Personen in einer Notsituation. Gegenstand der Förderdiagnostik sind nicht Defizite oder „Mängel“ des Kindes, einer Person, vielmehr die Notsituation selbst, die Entwicklungen behindernder Bedingungen, ins Stokken geratene Erziehungs- und Lernprozesse sowie die Erkundung der aus der Notsituation entstandenen speziellen Erziehungs- und Handlungsbedürfnisse. Verwiesen sei hierbei auf die pädagogische Verantwortung und die Berücksichtigung der anthropologischen, pädagogischen, sozialen, didaktischen, ganzheitlichen und ggf. therapeutischen Dimensionen der Förderdiagnostik (Bundschuh 2019, 75–105, 126–135).

      Die sonderpädagogische Diagnostik hat zwar Methoden und viele Impulse aus der psychologischen Diagnostik entnommen, ist aber hinsichtlich ihrer speziellen Aufgaben, ihrer schwierigen, komplexen sowie herausfordernden Handlungsfelder und ihrer Ziele eigenständig (Bundschuh 2019). Unter sonderpädagogischer Diagnostik wird das Insgesamt aller Erkenntnisbemühungen im Dienste aktueller (heil-) pädagogischer Herausforderungen, Prozesse und Entscheidungen verstanden. Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld ist primär auf den Einzelfall unter Einbezug negativer, d. h. für die Entwicklung ungünstiger, aber auch positiver, d. h. förderlicher Umfeldbedingungen, fokussiert. In Anlehnung an die Definition „pädagogischer Diagnostik“ von Ingenkamp und Lissmann (2008, 13) umfasst sonderpädagogische Diagnostik alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Schülern bzw. Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, (gestörte) Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu verbessern bzw. zu optimieren, bei Bedarf auch Verhalten positiv zu beeinflussen. Zur sonderpädagogischen Diagnostik bzw. Förderdiagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu individuellen Förderprogrammen bzw. Fördermaßnahmen unter Einbezug eines Förderplanes ermöglichen.