„Mein liebes Kind, wie konnte das nur geschehen? Du warst sehr leichtsinnig und vorwitzig! Schau hin wie deine Beine jetzt aussehen.“
So wie in diesem Moment hatte Amelie die Duse noch nicht erlebt. Die letzten Male war sie sehr freundlich und erklärte ihr, was sie nicht verstand oder unterstützte sie. Warum erklärte sie ihr jetzt nicht, was ihr Schreckliches geschehen war? Warum war sie hier?
Die Duse beantwortete die gedachte Frage sofort.
„Meine liebe Amelie. Du warst übermütig und unvorsichtig! Heute wäre für dich keine Lektion vorgesehen gewesen. Deshalb müssen wir in meinem Labor bleiben. Sonst bringst du in Hisian noch alles vollständig durcheinander.
Eine ungeheure Leichtsinnigkeit war es von dir in diesem Spiel gewinnen zu wollen. Hast du denn nicht nachgedacht?“
Die Duse schlug einen Ton an, den Amelie von ihr nicht kannte. Sie war böse mit ihr. In Amelies Bauch rumorte es gehörig. Ein heißer Schauder lief durch ihren Körper von ganz unten aus der Erde, bis hinauf in ihr Herz.
„Wie war denn das Gefühl in deinem Bauch als du auf den Deckel gestiegen bist? Hast du die Achtungszeichen nicht gespürt? Wo war deine Vorsicht?“
Die Duse war aufgeregt, deshalb sprudelten ihr die Fragen nur so über die Lippen.
„Ich wollte die Größte sein. Deshalb habe ich nicht auf mein Gefühl geachtet. Ich weiß, das war falsch.“
Amelie war sehr kleinlaut geworden.
Die Duse war so ärgerlich, dass sie keine tröstenden Worte fand.
„Was ist daran so gut, die Größte zu sein? Kannst du mir das einmal erklären?“
Ein Zittern lief über Amelies Gesicht. Sie wusste, es war dumm von ihr auf den Deckel zu steigen und dafür schämte sie sich jetzt.
Die Duse durch Amelies Scham besänftigt, lenkte ein.
„Also gut mein Kind, wir sind in meinem Labor. Wir werden dir helfen.“
Nun, durch das Einlenken der Duse etwas ruhiger, sah sich Amelie um, denn sie hatte vor Schmerzen und Angst nicht bemerkt, dass Maike fehlte und sie nicht auf der Blumenwiese oder einer Lichtung in der freien Natur war.
Wie schrecklich, wenn die Duse aufgeregt und ungehalten war. Ihr Gesicht veränderte sich dann beängstigend. Vor Ungeduld ruderte sie mit den Armen und dieses Verhalten erschreckte Amelie sehr. Es war wirklich besser sie kam zu einer Lektion nach Hisian und nicht wegen ihrem sträflichen Lichtsinn. Sie war sehr zerknirscht. Wie konnte sie nur so dumm sein? Was hatte sie sich nur gedacht als sie auf den Deckel stieg?
In Hisian konnte nicht nur die Duse Gedanken lesen. Dort konnte es auch Amelie. Deshalb hörte sie die Duse nach einem alten Freund rufen.
„Reginald, Reginald komm schnell! Wir haben hier ein körperliches Problem. Verbrennungen – um es ganz genau zu sagen.“
Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich ein Mann vor den beiden. Er war klein und nicht mehr ganz jung.
Konnte er schweben?
Amelie hatte nicht gesehen ob er hereingeschwebt war. Komisch, von dem Moment an als dieser Reginald erschienen war, spürte sie überhaupt keine Schmerzen mehr.
Er schwebte zu ihr herüber. Als er vor ihr schwebte, bemerkte sie, dass er ein langes und ein kurzes Bein hatte. Was mochte ihm geschehen sein?
Reginald erklärte es ihr umgehend, denn Ablenkung ist nach einem Unfall alles! Die Schmerzen hätten andernfalls Amelies Bewusstsein vernebelt. Das war der Grund aus dem sich Reginald beeilte zu erzählen.
„Ich war auch so unvorsichtig wie du. Vor vielen, vielen Jahren habe ich mir als kleiner Junge, in einem anderen Land als deinem Heimatland, das Bein gebrochen. Damals hatten wir in meinem Heimatdorf keinen Heiler, der sich mit körperlichen Problemen so auskannte wie ich. Deshalb ist mein Bein nicht richtig zusammen gewachsen und ich sehe etwas bizarr aus. In Hisian ist das kein Problem, denn hier schweben alle und beim Schweben habe ich keine Schwierigkeiten mit meinen Beinen!“
Amelie nickte als hätte sie jedes Wort verstanden. In Wahrheit verstand sie überhaupt nichts. Sie musste sich sehr bemühen, um nicht im Nebel der Schmerzen zu versinken. Reginald erzählte unbeirrt weiter.
„Im Lande Hisian braucht sich keiner so zu mühen wie die Menschen auf der Erde. Sie werden manchmal vom vielen Laufen müde. Oder ihre Beine schmerzen, wenn sie den ganzen Tag gelaufen sind. Reginald schaute Amelie in die Augen und in ihr Herz schlich sich die Gewissheit, dass die Schmerzen nicht wieder in ihr Bewusstsein dringen würden. So konnte sie sich diesen Mann, der sie von ihren Schmerzen befreit hatte, genauer betrachten.
Seine roten Haare und der komische Hut auf seinem Kopf verliehen ihm etwas Erhabenes. So einen Hut hatte Amelie noch nie gesehen. Der Versuch den Hut mit einem zu vergleichen, den Amelie schon einmal gesehen hatte, misslang. Denn der Zylinderhut, den ihr die Oma einmal zeigte, unterschied sich grundsätzlich von dem Hut, den Reginald trug. Warum dachte sie jetzt an den Zylinder ihres Opas? Ihr Opa war einfach verschwunden. Das wusste Amelie von Ihrer Mutter. Weshalb der Opa verschwunden war, verstand Amelie nicht, denn ihre Oma sagte stets traurig, wenn sie von ihm erzählte. „Wir wissen nicht was aus ihm geworden ist.“
Amelie grübelte vor sich hin. Es gab so viele Gräber auf dem Friedhof. Dort lagen doch die Leute aus dem Dorf, die gestorben waren. Wo liegt denn mein Opa, wenn niemand weiß wo er geblieben ist? Amelie hatte diese Frage an ihre Oma gestellt und die Antwort der Oma machte das Verstehen nicht leichter. Der Krieg ist schuld hatte ihre Oma erklärt. Er ist dort geblieben und niemand weiß wo er nun ist. Die Sache mit dem Krieg verstand Amelie auch nicht. In dem Krieg haben sehr viele Menschen gekämpft, sagte ihre Oma. Auch ihr Opa hatte gekämpft und war nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Diese Gedanken beschäftigten Amelie unwillkürlich bei der Betrachtung des Hutes auf Reginalds Kopf. Der Hut war spitz und nicht so rund wie der Zylinderhut, den die Oma ihr gezeigt hatte. Amelie kannte nur moderne Hüte, die der Vater und die Mutter trugen. So einen altmodischen Hut, der auf Reginalds Kopf hin und her wackelte, wenn er sprach, hatte Amelie noch nie gesehen. Er war genauso altmodisch wie der Zylinderhut des Opas.
Amelie war wieder einmal mit ihren Gedanken von dem abgeschweift was direkt vor ihren Augen geschah. Sie hatte scheinbar den stärksten Schmerz überwunden.
Als sie von ihrem Gedankenspaziergang zurückkehrte, musterte sie den Mann neben sich eingehender. Seine Knollennase und sein spitzes Kinn verliehen ihm ein interessantes Aussehen. Am Kinn wuchs ein kleines rotes Bärtchen, das ihm ein ulkiges Aussehen verlieh. Seine Augen waren klar und blau wie zwei große Seen. Gerade als sie dies dachte, schaute Reginald Amelie besorgt ins Gesicht. Er schien zu kontrollieren ob es ihr gut ginge. Ihr ging es so gut, dass sie mit der Betrachtung Reginalds fortfuhr.
Sein langes dunkelblaues Gewand war mit Sternen übersät? An seinem Hut funkelten diese Sterne hell wie die Sonne selbst. Der Hut, wenn er auch altmodisch war, passte prima zu seinem Gewand, da er aus dem Stoff gefertigt worden war, aus dem auch das Gewand bestand. Reginald trug einen Gürtel, der Amelies Interesse sofort weckte. An ihm waren überall kleine Haken angebracht, an denen Gefäße und Stoffbeutel befestigt wurden.
Amelie fragte Reginald, was er in diesen Gefäßen und Beuteln aufbewahrte. Natürlich bekam sie sofort eine Antwort. Reginald nutzte jede Gelegenheit zur Ablenkung von den Schmerzen, die durch die Verbrennungen verursacht wurden.
„In den Gefäßen und Beuteln sind Heilkräutlein und Mixturen, die für kranke Menschen bestimmt sind, die eine besondere Aufgabe auf der Erde erfüllen sollen.“
„Ich habe jetzt wohl keine Schmerzen mehr, weil du mir etwas davon verabreicht hast?“
„Natürlich habe ich dir etwas gegen die Schmerzen gegeben. Ich kann dich doch nicht leiden lassen. Obwohl; wer so unvorsichtig ist wie du, muss natürlich auch spüren, dass er einen Fehler gemacht hat. Ich bin Heiler und Heiler helfen!“ Reginald schüttelte bei diesen Worten seinen Kopf und sein Hut wackelte dadurch bedenklich.
„Es