Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür zum der dunklen Kammer. Ganz leise betrat jemand den Raum.
Amelie kroch noch weiter unter das Bett, damit sie niemand finden konnte. Wirklich niemand!
Der Urgroßvater hatte die Kammer betreten, er wollte nach ihr schauen. Er hatte, mit der Verantwortung für das Kind, in seiner Küche keine Ruhe gefunden.
Als er das Bett in der Kammer leer vorfand, erschrak er. Wo konnte die Kleine nur sein?
Er suchte im Schrank, unter der Kommode und zuletzt, Amelie hielt die Luft an, unter dem Bett. Als er sie entdeckte, schrie sie laut auf.
In ihrer Angst kroch sie noch weiter nach hinten in die Ecke, wenn das überhaupt noch möglich war. Ganz eng zusammengerollt, verharrte sie dort. Sie hatte es geschafft. Der Urgroßvater konnte sie nicht erreichen. Sie war unerreichbar für ihn in Sicherheit.
In der Eile des Rückzugs jedoch war ihr ein Malheur passiert. Heike blieb ein Stück von ihr entfernt auf dem Boden liegen. Die arme Heike, sie würde sich erkälten. Dieser Gedanke verursachte einen bohrenden Schmerz in Amelies Brust. Aber sie brachte nicht den Mut auf, Heike zu sich heran zu ziehen. Vielleicht hätte sie der Urgroßvater mit der schrecklichen Knollennase dann packen können.
Der Urgroßvater versuchte indessen Amelie zu überreden unter dem Bett hervor zu kommen. Er brachte sogar ein Stück Schokolade aus der Küche herüber. Amelie hätte die Schokolade sehr gern gegessen, doch der Urgroßvater war auch da.
Was sollte sie tun? Wenn sie jetzt nach vorn rutschte, dann könnte sie vielleicht die Schokolade bekommen. Was würde der Urgroßvater dann aber mit ihr tun?
Amelie hörte eine Stimme ganz tief in sich, die ihr sagte:
Geh zum Urgroßvater. Du musst deine Angst überwinden.
Was war denn das? Sie sollte diesem Furcht erregenden Mann vertrauen und aus ihrem Versteck hervor kommen. Nicht auszudenken, zu schrecklich war diese Idee!
Aber, wenn sie nun in ihrer Ecke blieb, fror sie nur noch mehr als jetzt schon. Schlimmer noch, der Urgroßvater könnte Heike einfach mit sich nehmen.
Was sollte sie nur tun? Sie konnte Heike überhaupt nicht mehr beschützen, wenn sie in der Gewalt des Urgroßvaters war.
Amelie fühlte ganz tief in ihrem Herzen, dass sie Heike im Stich ließ. Sie sogar schnöde auf dem kalten Fußboden frieren ließ. Das schlechte Gewissen schüttelte sie ordentlich.
Also nahm sie allen Mut zusammen und sah sich den Urgroßvater ganz genau an. Plötzlich konnte sie sehen, dass seine Augen freundlich schauten und gerade hatte sich ein Lächeln in sein Gesicht geschlichen. Seltsam, so ein Lächeln war ihr noch nie an ihm aufgefallen. Vielleicht hatte die Stimme in ihr Recht. Jemand, der ihr Schokolade anbot und auch noch lächelte, konnte nicht so fürchterlich sein, wie in ihrer wilden Phantasie.
Ob die Phantasie sie täuschte? Phantasie kam nicht aus dem Bauch. Warum sie gerade hier und jetzt an ihren Bauch denken musste, hätte Amelie nicht sagen können. Dieser Gedanke war spontan tief aus ihr heraus gekommen und was tief aus ihr heraus kam, war meistens richtig. Woher wusste sie jetzt eigentlich was richtig war? Die Eltern hatten ihr dazu nichts gesagt. Sie brachten ihr eher bei, was nicht richtig war.
Sollte sie es probieren? Riskieren hervor zu kriechen und mit dem Urgroßvater zu gehen?
Heike lag verloren einen halben Meter vor Amelies Augen. Ob sie auch so eine Angst hatte wie Amelie? Die arme Heike, Amelie hätte sie so gern beschützt. Oder beschützte Heike Amelie? Puppen waren auf ihre Besitzerinnen angewiesen. Heike konnte sich ohne Amelie nicht bewegen. Diese Gedanken bewegten Amelie an ihrem Platz ganz hinten unter dem großen Bett in der schrecklichen, dunklen Kammer beim Urgroßvater. Nach einigen abwägenden Gedanken fasste sie sich ein Herz. Sie war für Heike verantwortlich. Ein Mädchen musste mutig seine Puppe beschützen.
Amelie kroch so durch ihre Gedanken ermutigt langsam und tastend vorwärts. Erst einen Fuß nach vorn. Nach oben schauen. Was macht der Urgroßvater?
Oh, er lächelte immer noch.
Das zweite Bein nach vorn. Sie konnte die Puppe erreichen, packte sie blitzschnell und klemmte sie unter ihren Arm.
Das war geschafft; Heike war in Sicherheit. Was für ein wunderbares Gefühl, die Puppe wieder im Arm zu halten.
Amelie spürte, dass ihre beherzte Tat in ihrem Inneren Ruhe erzeugte. Die größte Angst vor dem schrecklichen Alten war von ihr gewichen. Er hatte gelächelt und wirkte nun nett und freundlich auf sie. Vor so einem Urgroßvater mussten Amelie und Heike keine Angst haben. Amelie redete sich und Heike in Gedanken gut zu. Sie schaute nach vorn. Sollte sie es wagen? Sollte sie sich unter dem Bett hervor wagen? Sie schaute beherzt nach vorn.
Der Urgroßvater lächelte immer noch.
Er wurde überhaupt nicht ungeduldig, wie die Mutter, die oft wenig Zeit für das Kind hatte.
Amelie traute sich noch ein Stück nach vorn zu krabbeln.
Sie schaute erneut nach vorn. - Er lächelte immer noch.
Sie kroch weiter. - Er lächelte noch.
Ob sie auch das letzte Stück noch wagen konnte?
Sie schaute noch einmal vorsichtig in sein Gesicht. In diesem Augenblick lächelte der Urgroßvater breit und hielt ihr die Schokolade hin.
Als Amelie fast schon unter dem Bett hervor schauen konnte, reichte er ihr die Hand. Amelie nahm all ihren Mut zusammen und klemmte Heike noch fester unter ihren Arm. Sie musste die Puppe unbedingt beschützen. War sie nicht schon ein großes Mädchen?
Warum hatte sie vor dem Urgroßvater nur so eine Angst gehabt?
Er wirkte nun, aus der Nähe betrachtet, nicht mehr so schrecklich. Freundliche Augen und ein total runzeliges Gesicht waren doch nicht gefährlich. Komisch, das hatte Amelie bis jetzt überhaupt nicht bemerkt.
Die Schokolade bekam sie, obwohl sie eigentlich nicht artig war. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie solle im Bett bleiben. Oh, das würde Schelte geben. Sie war nicht brav im Bett liegen geblieben. Au weiha!
Amelie war normalerweise ein verständiges und artiges Mädchen. Sie wusste, die Eltern hatten viel Arbeit und wenig Zeit für sie und Franz. Unter diesen Umständen war Folgsamkeit ein guter Weg, um gemocht zu werden und keine Scherereien zu bekommen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, unter das Bett zu kriechen. Nicht auszudenken, wenn die Mutter früher zurückgekommen wäre. Amelie war überhaupt nicht artig gewesen. Diese Gedanken verursachten wieder einmal ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch. Was würde nun geschehen? Der Urgroßvater war bestimmt nicht gut auf sie zu sprechen. Amelie konnte nicht weiter denken, denn die Furcht vor der Mutter ersetzte nun die Furcht vor dem Urgroßvater. Sie schaute zu ihm hoch. Er hielt ihre Hand und nahm sie behutsam auf den Arm. Das war auch ganz und gar nicht so schrecklich, wie Amelie es sich vorgestellt hatte. Seine Arme waren zwar etwas knochig und piekten ihr in den Po, aber es war unerwartet angenehm auf seinem Arm und sie hatte von seinem Arm aus eine gute Übersicht über die schreckliche, dunkle Kammer.
Von hier oben konnte sie den Raum gut überblicken. Sie konnte nun erkennen, dass es überhaupt nicht so düster in der Kammer war, wie sie es in ihrer Angst gemeint hatte. Die Sonne schien durch das Fenster. In der Ecke neben dem Fenster stand ein uralter Puppenwagen, in dem eine Puppe lag. Diese Puppe sah völlig anders aus als Heike. Wie eine Dame aus längst vergangener Zeit. Sie hatte lange Haare und trug ein geblümtes Kleid, das ihr bis auf die Schuhe reichte und von Rüschen geziert war. Ihre Schuhe waren aus echtem Leder gefertigt. So eine Puppe hatte Amelie noch nie gesehen. Heikes Schuhe waren aus Plastik und weiß wie die Schuhe der Puppen der anderen Mädchen im Dorf.
Meine Güte, diese Puppe besaß einen Sonnenschirm aus dem gleichen Stoff wie das Rüschenkleid. So etwas Schönes hatte Amelie noch nie gesehen.
Sie