In Hisian war es für Amelie jedoch nicht schwer anzunehmen, dass sie noch zu klein war, um Dinge zu erfahren, die noch nicht offenbar werden sollten. In ihrem Korongo gab es so viel zu entdecken, dass sie sich über die gewonnene Freiheit für eigene Erkundungen freute.
Also schwebte sie, unbemerkt von den beiden debattierenden Frauen ein wenig näher an den Nebel heran. Er zog sie magisch an. Was wohl in diesem Nebel verborgen war? Ihre Neugier ließ sie unvorsichtig werden. Als sie ein Stück neben ihrem Dorf im Nebel schwebte, überfielen sie Gefühle, die sie kaum beschreiben konnte. Gerade noch hatte sie ihr Dorf in der Schlucht gesehen und nun war sie unwahrscheinlich traurig geworden. Sie sah vor ihrem inneren Auge einen jungen Mann, der tot auf einem breiten Bett lag. Er hielt eine Pistole in der Hand. Oh mein Gott, das war grausig. Sie schwebte schnell aus dem Nebel an den Rand des Korongos zurück.
Was sollte sie tun? Sollte sie der Duse von ihrem Übermut erzählen? Wie wurde sie nur diese fürchterliche Erfahrung los? Gerade als sie innerlich verzweifelt nach Hilfe rief, erschien aus dem Nebel eine kleine durchscheinende Uhr, hüllte sie kurz in einen Nebel ein und in diesem Moment hatte Amelie alles vergessen, was sie gesehen und gespürt hatte.
Sie schaute zu Amoresit und der Duse hinüber und war froh, dass deren Gespräch nun ein Ende gefunden hatte. Das kleine Uhrenwesen hatte ihr die Erinnerung an den Moment des Eintauchens in den Nebel geraubt, so dass sie kein schlechtes Gewissen haben musste.
Amelie schaute interessiert zu, als ihr Korongo verschlossen wurde. Nach einer kurzen Verabschiedung von Amoresit wurde sie von einer nachdenklichen Duse zu ihrer Blumenwiese geleitet. Maike wartete schon auf sie. Amelie umarmte das Reh, denn sie fühlte sich plötzlich elend. Mein Gott was für eine schrecklich neblige Schlucht ihr Korongo war. Was hatte sie dort eigentlich gewollt?
„Du wolltest wissen, wie alt du bist. Das war wirklich keine gute Idee von dir. Dein Leichtsinn hat Amoresit eine Menge Arbeit beschert.“
Insgeheim wusste die Duse jedoch, dass im Lande Hisian nichts geschah, das nicht auch ein Ziel verfolgte.
Wozu war der Besuch in Wakako also gut?
Sie jedenfalls hatte dadurch nur noch eine Sorge mehr aufgebürdet bekommen. Wie sollte sie den richtigen Zeitpunkt finden an dem sie für Amelie deren Korongo zugänglich machen musste. Die Duse schaute hinüber zu dem Kind. Unfassbar, was dieses Kind vermochte. Amelie und Maike wirkten so unschuldvoll und friedlich. Es schien als sei nichts geschehen.
Der Duse jedoch war klar:
In wenigen Augenblicken war eine große Veränderung eingetreten, deren Auswirkungen in allen Welten zu spüren sein sollten. Die Duse war nach dieser Reise vollkommen erschlagen. Was für ein Schlamassel. Sie hatte in kurzer Zeit eine Aufgabe bekommen, die ihr allen Wagemut, den sie aufbringen konnte, abverlangte. Das Kind musste wieder in ein gutes Gleichgewicht gebracht werden. Das schaffte Maike in diesen Minuten. Die Duse spürte, dass die Unbeschwertheit Amelies zurückkehrte, so dass sie zum Aufbruch bereit zu sein schien. Die Duse nahm die Hand des Kindes und brachte sie nachdenklich in ihr Zimmer zurück. Sie strich ihr über den Kopf. Ein Ausdruck ihrer eigenen Unsicherheit. Die Duse wusste, sie musste noch nicht handeln. Amoresit hatte ihr kostbare Zeit verschafft. Als sie davonschwebte schaute sie noch einmal zurück.
Amelie schlief friedlich ein. Am nächsten Tag begann für sie die lange Zeit des Wartens bis sie endlich zur Schule gehen und lesen lernen konnte. Diese Zeit musste sie, wie es ihr ihre Oma geraten hatte, mit Spiel und brav sein, vertreiben. Kleine Mädchen, wie sie, konnten nicht bestimmen, wann sie zur Schule gehen wollten.
So hatte sie sich fest vorgenommen, in dieser Zeit noch mehr Bilderbücher anzuschauen und immer wieder jemanden zu suchen, der ihr vorlas.
Amelie konnte sich auf veränderte Umstände einstellen. Wenn sie etwas akzeptiert hatte, dann stand es fest. Wieso sie die Dinge, die sie nicht ändern konnte einfach annahm, konnte sie sich nicht erklären. Aber sie konnte es, so klein sie auch war.
So spielte Amelie mit den Kindern und natürlich auch mit Franz und wartete darauf, dass sie endlich lesen lernen durfte.
Die Zeit würde wie im Flug vergehen, denn es war eine sehr kurze Spanne. Woher diese Gedanken kamen konnte sich Amelie nicht erklären. Sie zitterte ein wenig und ihr Herz machte einen Hüpfer.
Der Urgroßvater
Amelies Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft. Sie mussten viel auf ihren Feldern arbeiten. So hatten sie wenig Zeit für ihre Kinder Franz und Amelie. Eines Tages mussten Amelies Oma und Mutter im Nachbardorf Heu wenden und Amelie hatte noch keinen Mittagsschlaf gehalten. So nahmen sie das Kind mit in das Nachbardorf in dem ihr Urgroßvater wohnte.
Amelie sollte dort in seinem großen, alten Haus Mittagsschlaf halten. Vor dem Urgroßvater hatte Amelie große Angst. Er sah so Furcht erregend aus mit seinem strubbeligen Bart, der Brille und der Knollennase. Das Schlimmste jedoch für Amelie war: Er hatte vorn nur noch zwei Zähne! Das sah so erschreckend aus, dass sie sich so sehr fürchtete, dass sie lieber auf der Wiese geschlafen hätte als beim Urgroßvater im Haus. Die Furcht wurde noch größer als Amelie bemerkte, dass sie zum Schlafen ganz allein in eine dämmrige Kammer eingesperrt wurde. In der Kammer stand ein großes Bett, viel zu groß für das kleine Mädchen. Das Bettzeug fühlte sich kratzig und unangenehm an.
Sie würde trotzdem in diesem düsteren Zimmer aushalten müssen. Die Mutter war in ihrer Nähe. Das beruhigte sie etwas. Außerdem hatte Amelie ihre Lieblingspuppe Heike mitgebracht. Heike war in diesem düsteren, einsamen Gefängnis ihr einziger Trost. An ihr konnte sie sich festhalten, wenn die Angst zu groß wurde.
An der Wand gegenüber dem Bett stand ein Schrank. Von dessen Tür blickten Amelie eigenartige Tiere an. War das nicht ein Drache? Schrecklich, gerade wollte Amelie nach der Mutter rufen. Da hörte sie vor der Zimmertür die Stimmen des Urgroßvaters und der Mutter.
„Amelie wird nun zwei Stunden schlafen. Ich gehe jetzt auf das Feld.“
Oh Schreck, die Mutter ging zum Feld und ließ sie mit diesem schrecklichen Alten ganz allein. Was sollte Amelie tun? Sie war mit Heike ganz allein gefangen in dem dunklen Zimmer mit diesem schrecklichen Urgroßvater draußen vor der Tür. Diese Gedanken schienen ihr schier das Herz zusammenzudrücken. Meine Güte, wie furchtbar. Nach wem sollte sie rufen, wenn sie unbedingt einmal musste? Wer würde dann kommen?
Mit Sicherheit der Urgroßvater!
Schrecklich! An Schlaf war nun überhaupt nicht mehr zu denken. Die Gegenstände in der düsteren Kammer wurden allesamt zu Schreckgespenstern. In der Ecke entdeckte sie einen Ständer mit einer Schüssel oben drin. So einen Ständer hatte Amelie noch nie gesehen. So etwas Unheimliches. Wozu die Schüssel wohl gebraucht wurde? Amelie schaute hinüber und die Schatten an der Wand ängstigten sie noch mehr. Sie drückte Heike fest an sich. Die raue Bettwäsche trug dazu bei, dass sie sich immer unwohler und bedrohter fühlte. Sie schien immer kratziger zu werden. Amelie konnte es kaum noch in dem alten, breiten Bett aushalten. Auf der Kommode gegenüber stand eine großbauchige Flasche, die wie ein Ungeheuer auf das Mädchen wirkte. Im Spiegel an der Wand sah Amelie zu allem Überfluss auch noch einen Schatten.
Schaurig. Amelie ängstigte sich so sehr, dass sie schließlich unter dem Bett Schutz suchte. Dort in der hintersten, dunkelsten Ecke fühlte sie sich mit Heike im Arm noch am sichersten. Der Staub unter ihrem kurzen Unterhemd und an ihren Knien war nicht so schrecklich, wie diese Ungetüme in der düsteren Kammer.
Das Gefühl von Sicherheit, das sie urplötzlich verspürte, kam wohl von dieser wohligen, weichen Berührung an ihrer Wange. War das ihre Lieblingspuppe? Ihr schien, das Gefühl kam von ganz tief innen. Wo sie in diesem Moment überhaupt dieses Sicherheitsgefühl her nahm, konnte Amelie sich nicht erklären. Sie genoss jedenfalls