„Nein, ich bin überhaupt nicht böse. Das Wachsen der Früchte und Blätter bekommt durch die Nutzung durch Menschen und Tiere erst einen Sinn. Ich wachse und erlebe manche Überraschung im Laufe der Jahreszeiten. Nie habe ich ein Jahr erlebt, das dem vorherigen glich.“
Im Stamm der Eiche bewegte sich etwas. Plötzlich entdeckte Amelie an der Stelle, an der sie gerade noch meinte das Gesicht der Eiche gesehen zu haben, etwas völlig anderes. Sie zeigte auf die Stelle am Stamm.
„Wer hat denn das Herz dort eingeritzt?“
Die Eiche lächelte.
Amelie fand das eigenartig, gerade noch hatte sie das Herz, das scheinbar Menschen in den Stamm eingeritzt hatten deutlich erkennen können. Jetzt sah sie, wie vorhin als sie sich mit der Eiche unterhielt, eine Nase, einen Mund und Augen. Diese Eiche war ein Phänomen. Geradezu eine Verwandlungskünstlerin. War das, was Amelie sehen konnte wirklich das Gesicht der Eiche?
Die Eiche antwortete auf Amelies gedachte Frage, denn in Hisian wurden alle Gedanken gehört.
„Ich zeige manchen Menschen mein Gesicht dort, wo das Liebespaar vor dreihundert fünfundvierzig Jahren das Herz und seine Namen eingeritzt hat. Das war ein schönes Erlebnis. Der junge Mann sang ein Lied für seine Liebste und ich durfte Zeuge dieser Stunde sein. Die beiden kamen immer wieder zu mir. Sie saßen in meinem Schatten. Später wurden sie ein glückliches Ehepaar. Nach einigen Jahren brachten sie sogar ihre Kinder mit. Das war wunderschön.“
Amelies Augen glänzten träumerisch. Sie konnte diese romantische Geschichte ganz tief in ihrem Herzen einschließen. Die Eiche war eine Zauberin. Sie hatte Amelies Herz gerührt, ganz einfach mit dieser kleinen Geschichte und ihrer ruhigen, tiefen Stimme. Wie angewurzelt und voll auf ihre Gefühle fixiert stand sie vor der Eiche.
Die Duse schwebte heran und mahnte zum Gehen. Sie riet Amelie sich von der Eiche zu verabschieden. Amelie sah auf zum Wipfel des Baumes und fragte schüchtern ob sie den Stamm berühren dürfe. Die Eiche lächelte und gab ihr im Moment der Berührung viel Güte mit auf ihren Weg.
Amelie wurde es augenblicklich warm um ihr Herz. Sie fühlte genau, die Eiche meinte es gut mit ihr.
„Viele gute Begegnungen mit meinen Freunden in deiner Nähe, Amelie.“
Traurig schaute Amelie sich um und winkte, als sie mit der Duse davon schwebte.
Die Duse machte Halt und schaute Amelie ernst ins Gesicht. Sie hatte noch etwas zu erklären, bevor Amelie Hisian wieder verlassen musste.
„Hier hast du erlebt, dass die Menschen etwas von den Pflanzen lernen können. Dein Gefühl, dass Pflanzen dir etwas sagen können, trügt dich also nicht. Du wirst diesen Besuch, Maike, die Eiche und mich zu Hause vergessen haben. Dein Herz wird dich, wenn du traurig und allein bist, daran erinnern. Du wirst uns vergessen. Doch du wirst uns spüren und dich dadurch sicherer fühlen. In deinem Zimmer bist du immer sicher, denn dort wirst du Trost und Ruhe finden.
Wenn du einmal Angst hast oder traurig bist, dann geh in dein Zimmer und kuschle dich tief in dein Bett. Dort bist du uns sehr nah.
Verabschiede dich von Maike, denn wir müssen wieder zurückkehren.“
Amelie schmiegte ihre Wange in Maikes weiches Fell. Sie schaute traurig in die Augen des Rehs. Maikes große braune Augen trösteten sie sofort.
So nahm Amelie nach dieser Stärkung getröstet die Hand der Duse und winkte Maike beim Davon schweben zu.
Sie dachte bei sich: „Tschüss, liebe Maike, ich hab dich sehr lieb. Ich komme bald wieder!“
Mit Tränen in den Augen schwebte Amelie an der Hand der Duse zurück. Am Waldrand angekommen, gab die Duse ihr einen Kuss auf die Nase. Auch ihr fiel heute der Abschied schon schwerer als beim ersten Besuch.
„Wenn du jetzt zu Hause ankommst, wird nicht mehr als eine Minute vergangen sein. Du wirst erwachen und dich nicht an deinen Besuch in Hisian erinnern.“
Die Zeit
Amelie saß versonnen unter der Mühle auf einem großen Stein. Mit dem Heft in der Hand schaute sie plötzlich in die grünen Augen von Nachbars Katze. Sie strich so gern um Amelies Beine. Liebevoll schaute sie zu ihr hinab als sie um ihre Beine strich.
Das Heft mit den Bildern war wunderschön. Amelie wollte so gern darin lesen. Wann würde sie darin lesen können? Sie würde ihre Oma fragen.
Amelie rappelte sich auf und lief hinüber zum Stall. Dort fütterte ihre Oma gerade die Kühe. Sie beantwortete Amelies Frage ohne aufzusehen.
„Alle Kinder kommen mit sechs Jahren in die Schule. Du bist erst vier Jahre alt. In zwei Jahren kommst du wie alle anderen Kinder in die Schule. Dort wirst du lesen lernen.“
„Wie lange sind zwei Jahre, Oma?“ Amelie konnte sich nicht vorstellen, wie lang zwei Jahre waren.
Nachdenklich den Kopf wiegend antwortete ihre Oma.
„Ich bin schon älter als du und habe viel erlebt, deshalb sind für mich zwei Jahre nicht viel. Aber du bist gerade am Anfang deines Lebens und für dich sind zwei Jahre noch sehr lang. Also genieße die Zeit in der du mit deinem Bruder und deinen Freundinnen spielen kannst, dann vergeht die Zeit schneller. Sei fröhlich und sehne nicht Zeiten herbei, die noch nicht angebrochen sind. Das Lernen kann manchmal anstrengend und unangenehm sein. Zur Schule zu gehen ist nicht so lustig, wie mit anderen Kindern zu spielen.“
Ihre Oma versprach noch in ihre Arbeit versunken das Märchen vor dem Abendbrot vorzulesen. Amelie ging zufrieden davon. Sie freute sich schon auf die Märchenstunde am Abend.
Als sie davon ging, spürte sie, dass ihr Gefühl nicht mit dem übereinstimmte, was die Oma ihr über die Zeit gesagt hatte. Sie würde ihren Vater bei Gelegenheit noch einmal danach fragen. Vielleicht hatte er etwas anderes zu sagen.
Amelie vergaß nie etwas, deshalb fragte sie ihren Vater am nächsten Tag:
„Vati, wie lang sind zwei Jahre und wann kann ich endlich zur Schule gehen?“
Der Vater erklärte ihr, dass sie erst vier Jahre alt sei und zwei Jahre wären eine lange Zeit für so ein kleines Mädchen wie sie.
Komisch, dachte Amelie nach dieser Erklärung, mit meinem Gefühl passt das wieder einmal überhaupt nicht zusammen. Ich hätte wetten können ich bin schon uralt.
Von diesem Gefühl erzählte sie später Franz. Er war jedoch noch viel zu klein. Darum konnte er mit den Ideen seiner Schwester wenig anfangen.
Beharrlich, wie Amelie war, musste sie noch jemanden fragen. Also beim nächsten Besuch in der Nachbarschaft fragte sie das große Mädchen, das auf sie achtete, wenn die Eltern auf dem Feld arbeiten mussten.
Sie bekam wieder die Antwort, dass für sie sicher zwei Jahre eine lange Zeit seien. Nun akzeptierte Amelie diese Tatsache. Sie hatte sich wieder einmal geirrt. Das war aber auch eigenartig. Wieso irrte sie sich so oft?
Die Frage nach der Zeit ließ ihr trotz der Erklärungen keine Ruhe. Sie hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte und konnte es sich überhaupt nicht erklären. Amelie war überhaupt nicht zufrieden. Das machte sie sehr traurig. Am Abend im Bett kuschelte sie sich, wie immer, tief unter die weiche Bettdecke. Sofort spürte sie etwas Warmes und Weiches an ihrer Wange. Die wohlige Wärme stieg ihr bis zum Herzen hinab.
Herrlich, ihre Traurigkeit war sofort verschwunden. Woran das wohl liegen mochte?
Im Hinüberdämmern wurde ein Ton in ihrem Kopf immer lauter.
Ticktack, ticktack. Amelies ganzer Körper wurde von diesem Geräusch ausgefüllt. Was war denn nun wieder geschehen? Amelies Körper war vollkommen erfüllt von dem Geräusch.
Ticktack, ticktack, ticktack… Der ganze Körper pulsierte und trotzdem fühlte sie sich leicht und frei wie noch nie. Sie schwebte über einem Abgrund und fürchtete sich überhaupt nicht. Um sich herum konnte