Sie kamen kurz vor der Mittagspause im Krankenhaus an. Deshalb saßen nur noch wenige Patienten im Wartezimmer. Die Dame in der Anmeldung war sehr freundlich und rief sofort den Arzt zu Hilfe. So kam es, dass Amelie schnell versorgt wurde.
Außerdem erklärte der Arzt den Eltern, dass das Krankenhaus zurzeit wegen eines Fiebers voll belegt sei und sie Amelie mit nach Hause nehmen müssten. Die Nachfolgebehandlungen würden ambulant erfolgen.
Amelie fragte die Mutter, was der Arzt denn damit meinte. Die Mutter schaute besorgt in ihr Gesicht und erklärte ihr. “Wir müssen jeden Vormittag mit dir hierher fahren, um dich verbinden zu lassen. Nur gut, dass wir ein Auto haben.“
Für die Eltern kam nun eine anstrengende Zeit. Sie brauchten nun viel mehr Zeit für das Kind. Überall, wo Amelie normalerweise hingehen wollte oder musste, wurde sie getragen. Sie durfte ihre Beine nicht belasten, damit die Heilung gute Fortschritte machen konnte. Das hatten die Ärzte den Eltern eindrücklich erklärt. Amelie befolgte alle Anweisungen und die Ärzte wunderten sich über dieses unnatürlich disziplinierte Kind. So viel Verstand schon in diesem Alter! Manche Erwachsene mit solchen Verletzungen waren uneinsichtiger. Komisch auch, dass die Kleine selten über Schmerzen klagte.
In dieser Zeit waren die Eltern froh und dankbar, dass Amelie sich mit dem Urgroßvater angefreundet hatte. Sie besuchte ihn nun öfter. Die Zeit in der er seine Geschichten erzählte oder Märchen vorlas, war für beide wunderbar und erleichterte den Eltern das Leben erheblich. In der Zeit, die Amelie beim Urgroßvater verbrachte, konnten sie beruhigt ihren Verpflichtungen nachgehen.
Franz, der noch nicht so verständig war, versuchte mehrmals, unter den dicken Binden nachzugucken. Wie es dort wohl aussah? Er wurde deshalb öfter gescholten. Aber seine Neugier war trotzdem nicht gestillt.
Amelies ungestümes Wesen war wie weggeblasen. Sie ließ die Behandlungen und den Wechsel der Verbände mit Gleichmut über sich ergehen. So kannten die Eltern sie überhaupt nicht. Es war, als hätten sie plötzlich ein anderes Kind. Das sollte sich ändern, als der Arzt Amelie erlaubte die ersten Schritte zu wagen.
Das war vielleicht lächerlich. Sie konnte doch gehen! Wieso sollte das so ein Problem sein? Amelie war empört!
Als sie das erste Mal versuchte zu gehen, konnte sie kaum das Gleichgewicht halten. Sie musste sich am Tisch festhalten, wenn sie nur irgendwie vorwärts kommen wollte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt!
In dieser Zeit zeigte sich, dass Amelie auch beharrlich sein konnte. Sie schaffte sie es innerhalb weniger Stunden auf ihren dicken Verbänden schon von der Stube in die Kammer zu gehen.
Als dann die Ärzte die dicken Verbände entfernten, waren sie sehr stolz auf das gute Behandlungsergebnis. Nur eine kleine Narbe am linken Fuß war geblieben. Anerkennend nickend und mit einem Lächeln auf dem Gesicht meinte der Arzt: „Mit den Beinen wirst du die jungen Männer, wenn du groß bist, ganz verrückt machen.“
Für Amelie unbegreiflich. Warum war es so wichtig junge Männer verrückt zu machen? Sie hatte schon genug mit Franz und seinen verrückten Ideen zu tun. Wenn er immer wieder an ihren dicken Verbänden zupfte, dann war er schon ein echter Plagegeist. Trotzdem liebte sie ihn sehr. Sie konnte nicht anders. Schon seit dem Augenblick als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war ein heißer Schwall in ihrem Herzen aufgestiegen. Sie erinnerte sich genau. Damals konnten seine wunderbaren blauen Augen Amelie noch nicht so umwerfend anleuchten und trotzdem hatte es sie beim ersten Sehen erwischt. Franz war ein ganz besonderer Mensch in Amelies Leben. Mit ihm verband sie sehr viel. Ihr Herz fühlte sich warm und weich an, wenn er in ihrer Nähe war. Sie teilten viele interessante und spannende Erlebnisse miteinander. Nur mit Franz konnte Amelie sich über diese gemeinsamen Erlebnisse unterhalten. Er verstand sie viel besser als die Erwachsenen. Franz war ihr Vertrauter und Freund. Sie lebten gemeinsam auf dem Bauernhof und alles Interessante dort konnten sie auch gemeinsam erforschen. Die Eltern ließen sie allein, wenn sie sicher waren, dass wenig geschehen konnte. Denn zwei von ihrer Sorte, aufgeweckt und kaum zu bändigen, konnte man einfach nicht ohne Befürchtungen allein lassen. Das war viel zu gefährlich!
Ihre Oma hatte so etwas zur Mutter gesagt. Amelie hatte das Gespräch der beiden mit einem schlechten Gewissen belauscht. In dem Gespräch hatte die Oma außerdem erwähnt, dass leicht eine Katastrophe passieren könnte.
Was für eine Katastrophe meinte ihre Oma? Amelie trieb diese Frage regelrecht um. Ob damit auch ihr Unfall in dem verbotenen Gebäude und die Verbrennung der Beine gemeint waren? Franz hatte solche Unfälle zwar noch nicht gehabt. Jedoch auch bei ihm kamen immer wieder kleine Unfälle vor. Seine Knie sahen aus wie eine Mondlandschaft - überall Narben.
Amelie konnte sich vorstellen, dass die Mutter oft unheimlich erschrocken war. Ganz genau konnte sie sich an die besorgten Gesichter erinnern, als Mutter und Vater sie mit dem Auto ins Krankenhaus brachten. Amelie spürte ein Grummeln in ihrem Bauch. Ein solches Grummeln spürte sie, wenn Franz hinfiel und dann bitterlich weinte, weil er sich wieder einmal an einem Stein das Knie blutig geschlagen hatte. Wenn er weinte, schmerzte Amelies Herz und die Traurigkeit, die sie empfand, konnte sie mit dem Kummer vergleichen, den sie fühlte, wenn sie selbst mit einer Situation nicht fertig zu werden drohte und ihr Bauch oder das Herz sprachen.
Diese Gedanken dürfte der Vater jetzt aber nicht hören. Er sagte: „Das Herz und der Bauch können überhaupt nicht sprechen.“
Irgendwie stimmte das für Amelie nicht und davon ließ sie sich auch nicht mehr abbringen. Diese Einsicht behielt sie jedoch lieber für sich allein, denn die Anderen wollten von Gefühlen im Herzen und im Bauch nichts wissen.
Komisch eigentlich, hatten die Anderen denn nicht solch ein Ziehen im Bauch?
Mit Franz konnte sie darüber auch nicht sprechen. Er wollte immer ein starker Junge sein und keine Memme.
Schade, Amelie hätte gern mit ihm darüber gesprochen. So sprach sie abends mit dem Herrgott darüber. Jemand anderes wollte von ihren Gefühlen nichts wissen. Das war schwer aber manchmal auch schön, denn Geheimnisse waren prickelnd und nur für sie ganz allein da. Etwas das nur sie selbst wusste und vielleicht noch ihre Puppe Heike.
Der Unfalltraum
Das Beten hatte Amelie von ihrer Mutter gelernt und sie fand es wunderschön. Wenn sie abends vor dem Einschlafen betete, fühlte sie sich noch sicherer unter ihrer Bettdecke. Sie hatte das Gefühl, das etwas Warmes, Weiches sie einhüllte und behütete. So, als wäre jemand da, der mit ihr schmuste und sie tröstlich wärmte. In diesen Momenten fühlte sie sich aufgehoben in ihrem Bett.
Neulich, das hatte Amelie niemand erzählt, träumte sie drei Nächte hintereinander denselben Traum. Einfach schrecklich! Nach diesem Traum konnte sie sich nur beruhigen, weil sie dem Herrgott und Heike anvertraute, was sie geträumt hatte. Heike hatte scheinbar aufmerksam zugehört als sie ihr erzählte, dass sie im Traum in einem alten Auto gesessen hatte. Das Auto war so ähnlich geformt wie das Auto ihres Vaters. Es wirkte nur größer. Das Schreckliche an dem Traum war, dass sie hinter dem Steuer saß und losfuhr. Hinter dem Lenkrad sitzend raste sie eine abschüssige Straße hinunter. Am Ende dieser Straße rückte ein großer Baum in ihr Blickfeld. Der Baum trug farbige Blätter und seine Krone erstreckte sich über die ganze Breite der Straße. Amelie bekam das Lenkrad nicht in den Griff. Sie konnte nicht anders. Unaufhörlich musste sie auf den großen Baum zu fahren. Sie bemühte sich nach Kräften das Lenkrad herum zu reißen, doch das Auto raste immer weiter auf den Baum zu. Bis es ihr schwarz vor Augen wurde und dann war nichts mehr, nur noch Schwärze und ein Fall ins unendliche Dunkel. So endete der Traum jedes Mal.
Amelie wachte danach stets schweißgebadet auf. Schrecklich diese Schwärze. Was dieser Traum bedeuten mochte? Heike konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Amelie war sehr froh, dass sie Heike davon erzählen konnte. Allein wurde sie mit diesem schrecklichen Traum nicht fertig.
In einer der Nächte, die den schrecklichen Traumnächten folgten, kuschelte Amelie sich ganz fest unter ihre Decke. Sie hatte den Herrgott