„Es ist wirklich eine ganz besonders große Gunst, die dir heute erwiesen wird.“ Die Duse hob den Zeigefinger und schaute Amelie mahnend an. „So etwas darf nicht wieder geschehen. Kannst du mir versprechen, dass du dich nicht wieder auf so ein Spiel einlässt?“
„Ich glaube, das kann ich nur, wenn ihr mir helft. Zu Hause vergesse ich Hisian doch.“ Amelie sah beschämt zur Duse hinüber. Sie wusste in diesem Moment genau, dass sie ohne die Duse und ihre Ermahnungen sehr leicht in gefährliche Spiele hineingezogen werden konnte.
„Das ist ein Problem, das wir lösen müssen. Wie könntest du gewarnt werden?“ Die Duse schüttelte nachdenklich den Kopf und schwebte zu Reginald hinüber, um ihm über die Schulter zu schauen.
Da Amelie nur warten konnte, schaute sie sich Reginalds Füße genauer an.
Die Beine, das empfand sie so, waren Reginalds besondere Eigenheit. Er trug Schuhe mit unterschiedlich hohen Absätzen. Das war klar, denn Reginald musste den Längenunterschied seiner Beine irgendwie ausgleichen. Er bewegte sich trotzdem behände durch das Labor, in das Amelie gebracht worden war.
„Du kannst von Glück sprechen, dass ich der Spezialist für solche Verletzungen bin. Deine Beine sehen ganz schön ramponiert aus! Wenn du als junge Dame mit deinen Beinen die Männer beeindrucken willst, müssen wir unbedingt etwas für dich tun.“ Reginalds Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen.
Die Duse wirkte ebenfalls besorgt und fragte leise: „Kannst du Amelie helfen?“
Reginald lächelte beruhigend. „Wir machen jetzt sofort ein paar Umschläge und dann werden wir den Menschen ganz unbemerkt helfen. Die Ärzte werden auf ihren Heilungserfolg stolz sein. Damit sie nicht zu überschwänglich werden, wirst du ein paar kleine Narben am linken Fuß behalten, mein Kind. Den Fuß hast du zuletzt aus dem Wasser gezogen, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Amelie erstaunt. Denn sie selbst musste sich ziemlich anstrengen, um sich an den Fall und den Ausstieg aus dem Kessel zu erinnern. Zu stark beeinflussten die Geschehnisse nach dem Fall in den Waschkessel ihr Denken.
Reginald legte Umschläge mit Salbe aus einem der Töpfe an seinem Gürtel auf Amelies Beine und drehte sich um. Seine Methoden waren zwar sehr altmodisch, halfen jedoch so gut, dass Amelie sofort eine Besserung spürte. Sie hatte uneingeschränktes Vertrauen zu ihm. Das Wunder ihres Hisians machte möglich, dass sie keine Angst hatte. Ihr Bauch und ihr Herz waren ruhig. Sie pochten oder rumorten nicht wie wild vor Angst.
Bis jetzt war Amelie gefesselt von Reginalds Anblick und dem, was mit ihr selbst geschah, so dass sie sich noch nicht in dem Labor umgeschaut hatte.
Unter dem Fenster stand ein langer weißlackierter Tisch. Darauf entdeckte sie jede Menge Gefäße, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Doch viel beeindruckender war der Kamin, der neben ihrer Pritsche eingebaut war.
Es fiel ihr erst jetzt auf, dass sie die ganze Zeit auf einer Pritsche gesessen hatte. Auf der Pritsche konnte sie ihre geschundenen Beine wunderbar ausstrecken. Ziemlich praktisch, wenn man sich die Beine verbrannt hatte. Sofort schmerzten sie nicht mehr so sehr. Die Umschläge, die Reginald aufgelegt hatte, konnten deshalb auch nicht verrutschten. Die Lehne in ihrem Rücken stützte sie.
Im Kamin, an vier Ketten, irgendwo oben im Schornstein befestigt, hing ein großer Topf. Darunter stand ein Dreifuß auf dem ein kleiner Topf stand. Reginald benutzte den kleinen Topf. Er füllte Wasser hinein. Danach gab er allerlei Kräutlein aus den Gefäßen und Beuteln an seinem Gürtel dazu. Es roch fremdartig und Amelie grübelte für wen Reginald dieses Gebräu bereitete. Als er dann mit einer Tasse, gefüllt mit diesem Gebräu, zu ihr herüberschwebte, schwante ihr nichts Gutes.
Igitt, sollte sie vielleicht dieses Gebräu trinken?
Richtig, sie hatte sich nicht getäuscht. Reginald hielt ihr dieses Zeug tatsächlich unter die Nase. Ein würziger Duft - unerwartet angenehm – stieg vor ihrer Nase auf und Amelie hatte plötzlich nichts mehr dagegen von dem Gebräu zu trinken. Die duftende Wolke aus der Tasse versetzte sie in einen Rausch. Sie konnte sich der Anziehungskraft durch Reginalds Gebräu nicht mehr entziehen.
„Mit meinem guten Trank wirst du auch in der Welt der Menschen wenig Schmerzen erleiden müssen. Du musst nur brav ruhig halten und warten bis die Haut an deinen Beinen nachgewachsen ist.“
„Was können wir ansonsten noch tun?“
Die Duse schien nicht mehr so ungehalten zu sein. Amelie atmete auf. Sie hörte Reginald genau zu, denn was er sagte schien wichtig zu sein.
„Sorge dafür, dass sie so schnell wie möglich zu einem Arzt kommt, sonst können sich die Ärzte die schnelle Heilung womöglich nicht erklären. Es wäre auch gut, wenn das Kind vor einem Krankenhausaufenthalt bewahrt wird. Dort vergessen die Schwestern aus lauter Zeitnot die Verbände regelmäßig zu wechseln. Das könnte dann trotz unseres Eingreifens noch Schwierigkeiten bereiten.
Das wäre schade, junge Dame. Du könntest die jungen Männer später nicht mit deinen schönen Beinen betören.“ Er schmunzelte in seinen Bart hinein und schwebte hinüber zum Topf, um den Rest des Gebräus abzufüllen.
Amelie verstand nicht was junge Männer mit ihren Beinen zu tun haben sollten. Was für eine Rolle spielten ihre Beine für junge Männer?
Sie war ein wenig verwirrt. Nach kurzem Nachdenken entschied sie. Die Hauptsache ist, dass ich laufen und gut und fest auf meinen Füßen stehen kann! Reginalds Trank machte sie müde, darum wurde das Nachdenken über diese Dinge immer mühsamer. Sie hörte nun lieber dem Gespräch zwischen der Duse und Reginald zu. Die Duse schien in ihrem Element zu sein.
„Es wird sicher möglich sein Amelie sofort zu einem Arzt zu bringen und ihr den Krankenhausaufenthalt zu ersparen. Wie oft müssen die Verbände gewechselt werden?“
„In den ersten zwei Wochen jeden Vormittag und in den zwei Wochen danach jeden zweiten Vormittag. Danach wird sie wieder laufen lernen müssen. Ruhe ist unbedingt notwendig, damit die Haut so nachwachsen kann, dass kein Schaden entsteht und keine großen Narben bleiben. Also, kleine Amelie werde nicht ungeduldig und befolge artig die Anweisungen der Ärzte. Du wirst zwar den Besuch bei uns vergessen, aber alles was wir dir gesagt haben, wirst du wissen und intuitiv befolgen. Außerdem werde ich jeden Tag etwas von dem würzigen Gebräu unter eines deiner Getränke mischen lassen. Du, die Ärzte und deine Eltern werden es nicht bemerken. So können wir dir von hier aus helfen. Die Schmerzen werden schnell verschwinden und die Heilung wird normal vonstattengehen.“
Die Duse ließ sich nicht nehmen Amelie noch eine letzte Mahnung mit auf den Weg zu geben.
„Wenn du wieder einmal ein Ziehen in deinem Bauch spürst, oder dir dein Herz eng wird, dann wirst du es beachten. Ich will nicht wieder vor Schreck atemlos werden. Was hätte nicht alles geschehen können? Denke immer daran, du wirst immer gewarnt. Du kannst dich hundertprozentig auf deine Gefühle verlassen!“
Mit diesen Worten im Ohr erwachte Amelie aus ihrer Ohnmacht. Die Nachbarin und ihr Mann brachten sie auf die Straße, um nachzusehen wo der Junge blieb, der in der Schänke einen Krankenwagen rufen sollte.
In diesem Moment bogen Amelies Eltern mit dem Auto in die Gasse ein. Der Junge, der zum Wirt geschickt worden war, hatte sie angehalten. Gerade zur richtigen Zeit waren sie zur Stelle.
Dieses Wunder war darauf zurückzuführen, dass Amelies Mutter sich nicht daran erinnern konnte, ob sie das Bügeleisen abgestellt hatte. Ihre Gedanken an die Katastrophe, die geschehen konnte, hatte sie so lange auf den Vater einreden lassen, bis dieser umkehrt war, um zu Hause noch einmal nach dem Rechten zu sehen.
Das war die Rettung in Amelies Not!
Sie wurde auf den Rücksitz des Autos gesetzt. Die Mutter nahm neben ihr Platz und hielt ihre Hand. „Du musst doch höllische Schmerzen haben Kind.“
Amelie schaute die Mutter an und lächelte. „Alles wird gut Mutti!“
„Was redest du da?“, sagte die Mutter