Im Angesicht des Todes. Tom Doyle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tom Doyle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573446
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brach ab, um das nächste Fladenstück in die Schüssel einzutauchen. „So wenige Gäste wie heute habe ich hier noch nie gesehen, Joseph. Aber vielleicht wäre es sogar besser, es wäre gar niemand hier. Letzte Woche tobten die Kämpfe nur eine Straße weiter.“

      Pastor Joseph ließ seinen Blick über die leeren Tischreihen schweifen. Er war es gewohnt, ständig auf der Hut zu sein, aber hier in dem Restaurant schien definitiv keine Gefahr zu drohen. Gefahr herrschte draußen, wo die neueste Offensive der Freien Syrischen Armee in vollem Gange war. Joseph grinste seinen Freund an, der ihm gegenübersaß.

      „Na, wenn hier einer aufpassen muss, dann doch du“, gluckste er. „Jemand, der Assad heißt, braucht bloß seinen Namen zu nennen, und ein halbes Dutzend Terroristen heben ihre Kalaschnikows!“

      Farid grinste zurück und nickte. Es stimmte ja. Assad war ein gängiger Name in Syrien. Und zurzeit ein gefährlicher. Vor mehreren Monaten hatte der alawitische syrische Präsident Baschar al-Assad die syrische Armee mobilisiert, um die Hauptstadt und damit seine Herrschaft zu sichern. Aber jetzt waren mehrere Rebellengruppen, allen voran die Freie Syrische Armee, dabei, ihrem verhassten Feind eine Straße nach der anderen abzujagen.

      Wenn es irgendwo einen Lichtblick in diesem Wahnsinn gab, dann war es die Tatsache, dass die Front der Sunniten zerstritten war. Wenn die diversen Milizen nicht gerade in Sichtweite der Regierungsgebäude alles kurz und klein schossen, töteten sie einander, denn jede war darauf erpicht, sich die künftige Vorherrschaft in der arabischen Welt zu sichern.

      Farid war fertig mit seiner Vorspeise. Er zeigte auf seinen Teller und winkte einem Kellner zu, der nichts anderes zu tun hatte, als seine beiden Kunden im Auge zu behalten. Der Kellner verschwand in die Küche, um den nächsten Gang zu bringen.

      „Joseph, hast du das mit den Soldaten aus dem Iran auch gehört? Erst diese Woche hat Teheran eine ganze neue Einheit geschickt.“

      Der Pastor blies die Luft durch seine fast geschlossenen Lippen heraus und schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er noch nicht gehört. Aber es würde passen. Da die Alawiten wie Präsident Assad Schiiten waren, konnten sie auf eine Unterstützung durch den Iran rechnen.

      „Man sagt, dass Präsident Assad und die Ayatollahs Hoffnung schöpfen, und sie haben auch allen Grund dazu. Jetzt, wo die Sanktionen gelockert sind, wird der Iran genügend Geld haben, um diesen Stellvertreterkrieg jahrelang weiterzuführen.“

      „Ja“, unterbrach Joseph ihn, „und unsere anderen arabischen ‚Freunde‘ können genauso lang die sunnitische Front bedienen. Auf der Straße flüstert man sich zu, dass die Sunniten sich länger halten werden als die Alawiten. Jetzt, wo auch die Iraner mitmischen, sind die Chancen für die Alawiten wieder besser.“

      Farid beobachtete ein paar Sekunden die Fontänen, bevor er antwortete. „Glaubst du, dass diese Prophezeiung im Buch Jesaja sich erfüllt hat?“ Er schaute wieder seinen Lehrer im Glauben an. In einiger Entfernung sah man den Kellner, der mit einem Teller Kebabspieße aus der Küche kam.

      Farids Frage war in diesen Tagen das wohl am meisten diskutierte theologische Thema unter den Christen in Damaskus. Pastor Joseph lehnte sich zurück und verschränkte nachdenklich die Arme. „‚Die Stadt Damaskus gibt es bald nicht mehr. Von ihr bleibt nur ein Trümmerhaufen übrig‘“, sagte er leise, Jesaja 17,1 zitierend. „Um ganz ehrlich zu sein, ich bin mir da nicht mehr so sicher. Aber was für eine Ironie wäre es, falls Damaskus wirklich zerstört wird und das ausgerechnet von den Arabern selbst!“

      Ein ohrenzerreißender Knall. Wasser schwappte über die Ränder der Springbrunnen. Der Kellner stieß mit einem Stuhl zusammen, dass die Kebabspieße über mehrere Tische flogen. Joseph schreckte hoch und schoss nach vorne. Farid packte mit beiden Händen die Kante des Tisches, dann rutschte er von seinem Stuhl und auf die Knie, Deckung suchend. Schreie der anderen Gäste mischten sich in die Echos von der Explosion. Jetzt warf sich auch Joseph zu Boden.

      Die Lichter im Restaurant flackerten, dann erloschen sie ganz. Die Gäste duckten sich verstört unter ihre Tische. Dann, in rascher Folge, drei weitere Explosionen. Neue Schreie. In das Krachen draußen mischte sich das Klirren drinnen, als Hunderte von Tellern und Tassen von ihren Regalen flogen und das Durcheinander komplett machten. Farid und Joseph zuckten zusammen, ihre Hände flogen über ihre Ohren. Dicke, schmutziggelbe Wolken aus Dreck und Staub quollen über die Mauern, hinein in den Freiluft-Speisesaal. An der Flughafenautobahn, nur ein paar Hundert Meter von dem riesigen Restaurant entfernt, hatte die Regierungsartillerie gerade ihre Gegenoffensive gegen die Kämpfer der Freien Syrischen Armee begonnen, die auf den Internationalen Flughafen vorrückten.

      Dann eine unheimliche Stille, in der man nur das Rauschen – oder war es eher ein Zischen? – der Springbrunnen hörte. Farid schielte durch den gelblichen Staub, der sich langsam über das weltberühmte Lokal senkte. „Alles in Ordnung, Joseph?“

      „Ich glaube schon“, erwiderte Joseph, der halb unter dem Tisch kauerte. Er richtete sich vorsichtig auf, ließ den linken Arm auf den Tisch fallen und sah seinen Freund an. „Und du hast recht gehabt: Wir wären heute besser zu Hause geblieben. Aber Gott hat gerade seine Hand über uns gehalten; es hätte schlimmer kommen können.“

      „Was nicht ist, kann noch werden.“ Farid schaute zu, wie sich staubbedeckte männliche und weibliche Gäste aus ihrer Schockstarre lösten und durch den gelbbraunen Nebel langsam zu den Ausgängen gingen. „Wir sollten auch gehen.“

      Joseph nickte und stand auf.

      Das Restaurant „Tor zu Damaskus“, das damit warb, dass es sieben Tage in der Woche geöffnet hatte, würde heute früher schließen. Farid und Joseph hasteten zur nächstgelegenen Tür. Neben einer Anrichte, um die ein Berg zerbrochenes Geschirr lag, stand der Besitzer des Restaurants, Shaker Al Samman, und sah den davoneilenden Gästen hinterher. Mit den gelbbraunen Flecken im Haar und auf seinem Maßanzug erinnerte er Farid an eines der berühmten Puderzucker-Desserts des Hauses.

      Farid ging auf Al Samman zu, während er aus seiner Jackentasche ein paar syrische Pfundnoten herauskramte. Der Restaurantbesitzer winkte ab. „Lassen Sie nur!“, rief er dem Stammgast zu. „Kommen Sie halt wieder, wenn’s wieder sicherer ist – wann immer das sein wird!“

      Farid und Joseph nickten und setzten ihren Weg zum Ausgang fort. Als sie auf die Straße traten, waren die meisten anderen Gäste bereits verschwunden. Es waren keine Militärfahrzeuge zu sehen – aber auch keine Taxis. Offenbar wohnten die meisten der anderen Gäste in der Nähe und gingen zu Fuß. Zu Fuß? Dazu hatten Farid und Joseph es viel zu weit. Ihre Augen glitten über die Straße. Was nun?

      Sie warteten, zwei einsame Silhouetten am Straßenrand. Fünf Minuten, zehn Minuten. Die Sonne sank unter die Dächer der Altstadt von Damaskus. Aus der Richtung des Flughafens kam ein stetiger Strom von Lieferwagen, Motorrädern und privaten Pkws. Aber kein einziges Taxi.

      Es war Farid, der das Schweigen brach. „Sieht fast so aus, als ob sämtliche Taxifahrer der Stadt Lunte gerochen haben und einen Bogen um den Flughafen machen.“

      Die beiden duckten sich unwillkürlich, als weiter hinten die Dämmerung von erneuten Detonationen zerrissen wurde. Sie waren aber nicht so nah wie die Explosionen, die ihr Abendessen so abrupt beendet hatten.

      Farid richtete sich wieder auf, zeigte mit den Händen in die Richtung der Detonationen und murmelte: „Vielleicht erfüllt sich diese Damaskusprophezeiung ja jetzt, während wir auf ein Taxi warten.“

      Plötzlich schlug Joseph mit dem Handrücken auf Farids Schulter und zeigte nach vorne. Keinen Meter entfernt kam ein grauer Hyundai Elantra mit quietschenden Reifen am Bordstein zum Stehen. Die Beifahrertür flog auf, sodass Farid unwillkürlich einen Schritt zurück machte. Sein Gehirn zählte die Einschusslöcher in der Tür. Eins, zwei drei … zehn.

      „Rein mit euch!“

      Jetzt erkannte Joseph den Mann, der sich da vom Fahrersitz zur Beifahrertür streckte und ihnen bedeutete, einzusteigen. Sein Freund Hanna Tarazi!

      „Seid ihr die Einzigen in der Stadt, die nicht wussten, dass der Krieg heute Abend in dieses