Im Angesicht des Todes. Tom Doyle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tom Doyle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573446
Скачать книгу
und sie geköpft – öffentlich, damit das ganze Dorf es mitbekam und jeder wusste: Bei uns ist Jesus nicht willkommen.

      Aber er war prompt zurückgekommen. Jetzt saßen zwölf neue Christen schweigend im Raum, während Azzam ihnen die Handsignale erklärte. „‚Kreis‘ bedeutet Treffen. ‚Drei‘ bedeutet das dritte Haus. ‚Rechts‘ ist die Richtung. Und ‚Strich‘ bedeutet so bald wie möglich.“

      Dann schlug er die einzige Bibel im Dorf, ja wahrscheinlich in der ganzen Provinz auf und las: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5,3-4).

      Lächeln auf mehreren Gesichtern; es waren Verwandte der Hingerichteten. Sie trugen Leid, aber sie wollten so gerne die gleiche Freude haben, die ihre Angehörigen gehabt hatten – selbst wenn das hieß, dass sie sie hier auf der Erde nur noch ein paar Tage hätten. Mehrere Minuten lang sagte niemand etwas.

      Dschabar brach das Schweigen. „Azzam, warum hat deine Mutter dir befohlen zu gehen? Hättest du dich nicht wehren können?“

      „Aber wir hier haben einander“, fuhr er fort. „Ihr seid jetzt meine Familie. Jesus hat jeden von uns gerufen, wie ein Hirte seine Schafe ruft. Ihr habt das ja selber erlebt. Ihr habt seine Stimme gehört – einige von euch buchstäblich – und auf seinen Ruf geantwortet. Denkt daran, was Jesus uns gesagt hat: ‚Es wird aber ein Bruder den andern dem Tod preisgeben und der Vater den Sohn‘“ (Matthäus 10,21).

      Azzam schaute in die noch ernster gewordenen Gesichter. „Aber reden wir von etwas anderem. Morgen werde ich das Land verlassen.“

      „Waas?“, rief Dschabar aus. „Warum denn das?“ Die anderen zuckten zusammen; jemand legte die Hand auf den Mund des Mannes, der da gerade viel zu laut gesprochen hatte.

      Azzam legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Nur eine leise Versammlung war eine sichere Versammlung. „Der Feind schleicht herum. Er zieht die Schlinge fester, wie ein Henker. Aber wir sind keine Verbrecher. Jesus hat uns frei gemacht. Er verurteilt uns nicht; das tun nur die, die ihn hassen.

      Ich gehe nach Kenia. Dort gibt es Bibeln. Ich bin von Christen kontaktiert worden, die bereit sind, uns welche zu schenken.“ Er unterbrach sich und musterte die Gesichter. „Meine Reise wird eine Woche dauern, vielleicht auch länger, aber wenn ich wieder zurück bin, wird jeder von euch eine Bibel haben – eine kleine, die ihr leicht verstecken könnt.

      Wir müssen uns mit dem Wort Gottes bewaffnen. Lernt so viel auswendig, wie ihr könnt, und dann gebt eure Bibeln an andere weiter, die auf sie warten. Wir müssen stärker werden, denn unser Kampf wird noch härter werden. Viel härter.“

      Dschabar schaute Azzam traurig an. „Du wirst ein toter Mann sein, bevor du die Grenze erreichst“, flüsterte er.

      „Vielleicht, Dschabar. Aber ich habe einen Plan.“

      Der Lastwagen rumpelte zurück auf die Straße, um seine Fahrt nach Kenia fortzusetzen. Bis jetzt war Azzams Plan perfekt verlaufen. Er schob sich lächelnd unter der Leiche zurecht.

      Zwei Wochen und eine zweite Fahrt in einem Sarg später war Azzam wieder zu Hause.

      Kreis. Sieben. Links. Strich.

      Diesmal war es Dschabar, der scheinbar ziellos die Dorfstraße entlangging. Er unterdrückte ein Lächeln. Keine zehn Minuten später saßen zwölf Christen auf dem Fußboden eines neuen Versammlungsraumes. Eine Stunde lang beteten sie voller Leidenschaft – viele für Azzams Sicherheit.

      Ein Geräusch an der Hintertür. Die Gebete verstummten abrupt, die Köpfe drehten sich herum. Was würde jetzt kommen? Langsam ging die Tür auf. Azzam trat in den Raum und stellte einen Karton auf den Fußboden. Ein Dutzend erleichterter Freunde im Glauben stürzten sich auf den zurückgekehrten Leiter der Gruppe, um ihn zu umarmen.

      „Es sind gebrauchte Bibeln. Unsere kenianischen Brüder und Schwestern haben sie jahrelang gelesen. Ihr hättet ihre Freude sehen sollen, als sie sie mir gaben. Sie schicken sie euch mit ihren besten Grüßen.“

      Eine weitere Stunde lang Gebete. Und Freudentränen über jede der Bibeln. Schließlich beendete Azzam das Treffen. Sie waren schon viel zu lange zusammen gewesen. Einer nach dem anderen schlüpften sie nach draußen.

      Zwei junge Männer stolzierten die Dorfstraße entlang. Sie unterhielten sich so angeregt über ihre neuesten Freundinnen, dass sie den Mann zuerst gar nicht bemerkten, der gute zehn Meter vor ihnen zwischen zwei Häusern auf die Straße glitt. Mahdis und Jasins Gespräch verstummte jedoch abrupt, als sie plötzlich sahen, wer der Mann war: Azzam Mubarak. Ausgerechnet.

      „Ich weiß, was ihr mit meiner Mutter gemacht habt.“

      „Azzam, wir hatten keine Wahl. Wir wollten das nicht, aber dein Vater hat es befohlen. Er hat gesagt, wenn wir es nicht machen …“ Mahdis rechte Hand ging langsam hinter seinen Rücken.

      „Ich weiß das mit meinem Vater.“ Azzam fixierte die beiden Mörder. „Ich bin nicht gekommen, um mich zu rächen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Sondern um euch zu vergeben.“

      Die beiden sahen kurz einander an, dann wieder den Mann, der da vor ihnen stand. Was sagte der da?

      Azzam fuhr fort: „Ihr müsst wissen, dass ich euch liebe und für euch beide gebetet habe, seit ich euch auf diesem Foto mit meiner Mutter gesehen habe. Jesus hat mein Herz mit Barmherzigkeit für euch erfüllt. Ihr braucht ihn genau so, wie ich ihn gebraucht habe. Er kann selbst Mördern vergeben. Seine Liebe ist größer als alles, was ihr getan habt.“

      Das war das erste Mal, dass die drei sich seit Azzams Flucht begegneten. Es gab noch mehrere weitere Treffen (alle spätabends); dann, überwältigt von Azzams Glaubenszeugnis, übergaben die beiden Piraten Mahdi und Jasin ihr Leben einem Heiland, der vergibt. Fürs Erste erzählten die beiden neuen Christen und Azzam niemandem etwas davon.

      Die Handsignale am Nachmittag riefen die kleine Gemeinde auf, sich um Mitternacht zu treffen. Man hatte aufgehört, sich jeweils sofort zu treffen, um keinen unnötigen Verdacht zu erregen. Alle saßen sie da, als Azzam kam.

      Dschabar japste auf, als der Leiter der Gruppe durch die Haustür hereinkam. Die Gespräche im Raum verstummten abrupt. Hinter Azzam Mubarak standen Mahdi und Jasin.

      Azzam sah die ängstlichen Blicke seiner Freunde. Seine linke Hand zeigte auf die beiden anderen in der Tür. „Mahdi und Jasin gehören jetzt zu uns. Jesus hat ihnen vergeben.“

      Azzam verstummte. Mit einem langsam breiter werdenden Lächeln wartete er auf die Reaktion der anderen. Niemand sagte etwas, aber alle fragten sie sich dasselbe: Wie konnte Azzam die Männer anlächeln, die seine Mutter wie ein Tier abgeschlachtet hatten? Wie konnte er auch nur neben ihnen stehen? Er musste doch an Rache denken …

      Mahdi brach das Schweigen. „In meiner Religion gab es keine Vergebungsgewissheit – weder von Gott noch von anderen Menschen. Als Jasin und ich letzte Woche plötzlich Azzam auf der Straße sahen, hab ich als Erstes nach meinem Messer gegriffen, denn er konnte ja wohl nur einen Grund dafür haben, plötzlich vor uns aufzutauchen: dass er uns beide umbringen wollte, um seine Mutter zu rächen und zu ehren.

      Aber