Tahereh kniete besorgt über der zukünftigen Leiche von Matt Flynn, der ein paar Schluckbeschwerden hatte. Genauer gesagt erstickte er an seiner zerdrückten Luftröhre. Ups! Saubermachen in Gang Drei, dachte Chalk. Musste ein ziemlicher Ausraster gewesen sein, wenn er spontan einen seiner eigenen Männer ausgeschaltet hatte. Das war nun mal der Preis für ein Leben am Rande des Wahnsinns.
Chalk schätzte schnell Flynns Überlebenschancen ein und sagte zu Kentish: »Rotschopf, bring unseren Burschen in den Kühlschrank, solange er noch frisch ist.«
»Ja, Sir«, war die zackige Antwort.
Sowohl Kentish als auch Tahereh wussten es besser, als sich um einen Doktor für Flynn zu bemühen, selbst wenn sie gewollt hätten. Nur Tahereh wusste, dass Chalk sich nicht um Flynns Arztkosten drückte. Während eines psychotischen Schubs, der Chalk eher gesprächig als gewalttätig gemacht hatte, und der mit einer glühenden Runde Sex zusammengefallen war, die in den meisten Staaten auch ohne die Gegenwart eines verdutzten Leguans illegal gewesen wäre, hatte er sich ihr gegenüber verplappert. Es schien, dass die medizinische Untersuchung, der jeder neue Angestellte beim Eintritt in Right Way unterzogen wurde, volle Blut- und Genuntersuchungen einschloss, die archiviert wurden, um Organentnahme und -verkauf auf dem Schwarzmarkt zu erleichtern. Falls der Agent umkam oder wie in Flynns Fall kurz davor war, strich Chalk das Sterbegeld ein. Es hielt die Pensionskasse überschaubar. Selbst wenn ein Agent auf einer Mission Mist baute, sonst aber gesund war, so brachte Chalk die Patienten-Akte des armen Schweins in mehreren Schwarzmarkt-Organdatenbanken in Umlauf, um zu sehen, ob nicht gut betuchte Empfänger ein oder zwei Ersatzteile bitternötig hatten. Eine Kugel und der geschickte Umgang mit dem Skalpell dünnten die Lohnliste effektiv aus und verschafften Chalk einen netten Profit. Außerdem blieb dadurch der Rest des Teams höchst motiviert. Verdächtigungen in den Reihen wurden niemals ausgesprochen. Gerüchte mochten unbestätigt kursieren. Niemandem war entgangen, dass es nicht allzu viele Right-Way-Pensionäre gab, die bei der Firmen-Weihnachtsfeier vom Leder zogen. Chalk betrachtete diesen eigentümlichen Rentenplan als die rote Uhr.
Nachdem Kentish den noch immer zappelnden Flynn im Gamstragegriff auf seine Schultern gehievt und das Büro für den kurzen Trip zum Tiefkühlraum verlassen hatte, klang Chalks Stimme eher kleinlaut. »Ziemlich übel, glaub' ich.«
Tahereh konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Warte ab. Seb kommt gleich in frischer Hose zurück.«
Chalk schätzte Taherehs gute Meinung. Er war dankbar, dass sie trotz seiner tödlichen Tendenz zu psychotischen Marotten nicht weniger von ihm hielt. Er sagte: »DePriest meint, dass wir den Ausreißer schnappen müssen.«
Tahereh seufzte und rollte ihre verführerischen Rehaugen. »Hab ich mitbekommen. Hätte er mich doch Ortungs-Chips bei denen anbringen lassen, wie ich's wollte.«
»Nicht wahr? Aber ich kann verstehen, was ihn gestört hat. Alles, was wir verfolgen können, kann auch jemand anderes aufspüren. Und die Kosten gehen vom Profit ab.«
»Mehr noch als verschwundene Ware?«
»Du rennst offene Türen ein, Schatz. Lass uns ein Team aufsatteln. Wir gehen den Zaun ab und schauen mal, was Sache ist. Und nein, wir warten nicht bis Tagesanbruch.«
Tahereh zuckte mit den Schultern. »Ich folge dir überallhin.«
Kapitel 7
Bens Gast schnarchte. Es war ungewohnt bei einer so jungen Person. Es war auch kein niedliches Schnurren mehr. Der röchelnde Rhythmus ihrer tiefen Erschöpfung hallte durch die Kabine. Sie hatte tapfer gegen den unvermeidlichen Schlaf gekämpft und ihre Waffe anfangs noch auf Ben gerichtet, bis ihr Handgelenk ermattete und sie es mit der anderen Hand stützen musste. Das schwere Essen und die wärmende Kabine taten den Rest, wie Ben vermutete. Ob nun aus Unschuld, Vertrauen oder, viel wahrscheinlicher, wegen völliger Erschöpfung hatte sie nicht daran gedacht, ihn zu fesseln oder einzusperren, um in Sicherheit ruhen zu können.
Ein paar wenige Minuten, nachdem der Kopf der jungen Frau endgültig nach unten gekippt war, hatte Ben sie behutsam auf sein Feldbett gelegt und mit all seinen Decken zugedeckt. Er hatte überlegt, ihr zum Komfort die salzverkrustete Feldjacke abzustreifen, aber als er sie aufhob, fiel das Revers zur Seite und entblößte eine erstarrte, dunkle Brustwarze. Plötzlich und mit absoluter Gewissheit wusste Ben durch den Blitz, der von seinen Augen in seine Lenden und dann in sein Herz fuhr, dass jegliches Vertrauen, das er seit ihrem Aufeinandertreffen aufgebaut hatte, sofort in Hass umschlagen würde, wenn sie nackt unter den Decken aufwachte. Ihm fiel die Wut ein, die ihr unten im Laderaum ins Gesicht gestanden hatte. Er wollte nicht der Auslöser davon sein. Also ließ er die Jacke, wo sie war. Auch die Stiefel nahm er nicht zurück. Als einzige Ausnahme seiner Nichteinmischungspolitik nahm er die .45er aus der Jackentasche in Verwahrung.
Ben hatte einen Gast. Er hatte ein Problem. Er sollte hier draußen auf dem Wrack allein und unerreichbar sein. Woher, in Gottes Namen, war sie gekommen? Wer wagte sich bei diesem kalten Wind, Regen und Nebel in einem kleinen Boot in die Chesapeake, ohne Kleidung, ohne Ruder und nur mit einer Pistole? Wie kam es, dass sie all das auf sich nahm, anstatt an Ort und Stelle Schutz zu suchen, wo auch immer das war?
Er grübelte darüber nach. Falls sie freiwillig nackt schlief, war es komisch, dass ihre Kleidung vom Vortag außer Reichweite gewesen sein musste. Womöglich war sie in einer verfänglichen Situation überrascht worden. War eine eifersüchtige Ehegattin zu früh nach Hause gekommen? Vielleicht. War sie im Eva-Kostüm von einem aufgebrachten Liebhaber vor die Tür gesetzt worden? Das schien grausam. Es war möglich, aber Ben hielt es für unwahrscheinlich. Zugegeben, sich nackt auf der falschen Seite einer verschlossenen Tür wiederzufinden, kam häufiger vor, als die meisten Leute vermuteten, was die Flur-Überwachungskameras vieler Hotels bestätigen würden. Diese selbstschließenden, selbstverriegelnden Türen taten ihr Übriges, auch wenn man nur unschuldig ein Tablett herausstellte, wo der Zimmerservice es abholen konnte. Alles in allem nichts Ernsteres als eine Blamage aufseiten der Gäste und Belustigung aufseiten des
Empfangsmitarbeiters, den man wegen eines Ersatzschlüssels aufscheuchte. Ob nun ein Hotelflur oder sogar ein Vorgarten, Ben dachte, dass sich eine hilflose, nackte Person nicht weit von der Tür entfernte, hinter die sie sich zurückziehen wollte. Es sei denn, die Person fürchtete sich vor dem, was hinter dieser verschlossenen Tür lag, und wollte entkommen, ohne Rücksicht auf Verluste. Er – oder sie, wie in diesem Fall – würde nicht bei schlechtem Wetter in ein Boot springen, wenn Hilfe am Ufer zu bekommen war. Außer vielleicht, sie war vorher auf einem anderen Boot unterwegs gewesen. Nein, der Gedanke mit dem Hotel und dass die Frau irgendwo Gast war, blieb bei Ben hängen.
Er zog Turnschuhe und eine Fleece-Jacke an und stahl sich mit seiner Taschenlampe wieder nach unten in den Laderaum. Wie er befürchtet hatte, war das Beiboot durch den Riss auf der Leeseite aus dem Frachtraum gespült worden und in der Nacht verschwunden.
Auf dem Weg zurück zur Kabine versuchte Ben, sich Einzelheiten des Bootes ins Gedächtnis zu rufen. Abgenutzte Registrierungsnummern waren ordnungsgemäß unterm Schandeck am Bug aufgeklebt oder -gemalt gewesen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Zahlen erinnern, nur dass die Bezeichnung mit MD für Maryland anfing. Von einer stocksauren, nackten Frau einen Pistolenlauf ins Gesicht gerammt zu bekommen, war seinem sonst ausgezeichneten Gedächtnis nicht zuträglich gewesen. Er war somit nicht in der Lage, die Nummer zurückzuverfolgen.
Als er durch seine flüchtigen Erinnerungen wühlte, wurde ihm klar, dass das Boot von hoher Qualität gewesen sein musste, aber das war schon lange her. Sein Kennerblick hatte sofort bemerkt, dass der Glasfaserrumpf seit wenigstens einem Jahrzehnt keinen neuen Gelcoat-Anstrich mehr bekommen hatte. Er trug immer noch