DIE SNUFF-KILLER. Robert Blake Whitehill. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Blake Whitehill
Издательство: Bookwire
Серия: Blackshaw
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958356191
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ein gutes Boot gewesen, aber vor einer Weile zu raueren Bedingungen und geringerer Pflege degradiert worden. Ein Jacht-Beiboot? Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Ben konnte sich nicht erinnern, ein lasttragendes Rechteck aus Sperrholz oder Mahagoni am Heck gesehen zu haben, an dem ein Außenbordmotor angebracht worden sein konnte, aber das war mindestens seit den letzten fünfzig Jahren Standard für solche Dingis.

      Er entsann sich keines Schwertkastens oder Seitenschwerts oder eines Mastschuhs, die daraus eine Segeljolle machen würden. Falls diese Komponenten Teil des Boots gewesen waren, er sie aber nicht bemerkt hatte, dann konnte die Frau das Boot weggesegelt und den Mast später eingeklappt haben. Das war kaum zu schaffen, ohne das kleine Boot zum Kentern zu bringen und selbst mit eingebauten Schwimmkörpern an Bord wäre es ein ganzes Stück Arbeit gewesen, bei dem hohen Wellengang das ganze Wasser aus dem Boot zu lenzen. Also doch keine Segeljolle.

      Als Ben die Kabine betrat, sah er, dass sich die junge Frau keinen Zentimeter gerührt hatte. Und sie schnarchte immer noch wie ein knurrender Wachhund. Warum hatte er sie nicht auf die Seite gedreht, um den Lärm einzudämmen? Seine Frau hatte ihn oft genug gewendet, wenn sie ein Bett teilten. Das würde hier nicht funktionieren. Er wagte es nicht, sie anzufassen, wenn sie schlief. So, wie sie aussah, würde sie sich mit Zähnen, Klauen und Ellbogen wehren. Ben wollte sich diesen Spaß verkneifen. Sollte sie doch in Ruhe schnarchen.

      Er fand sich mit dem Lärm ab, und als er am Schott herunterrutschte, fielen ihm plötzlich die Dollen des Dingis ein. Das war zumindest etwas. Da waren zwei Rudergabeln gewesen, ja. U-förmige Halterungen aus Aluminium an den Schandeckeln gleich hinter der Ruderbank. Bis zu dem Punkt oxidiert, an dem sie alt und matt aussahen, aber auf der Innenseite von den Bewegungen der Ruder poliert. Doch es hatte keine Ruder an Bord gegeben. Wer auch immer das Boot besaß, ruderte es normalerweise, kümmerte sich nicht um die Festmacherleinen oder den Zustand des Bootes, schätzte aber die Ruder so sehr, dass er sie nicht zusammen mit dem Boot aufbewahrte. Die fehlenden Ruder waren vermutlich nachgekauft und der stolze Preis war wohl besser in Erinnerung als die einstige Anschaffung des Bootes selbst. Ben wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Bootsfahrer nicht immer vernünftige Entscheidungen traf. Das Boot zu vernachlässigen, aber die glänzenden, teuren, neuen Ruder zu sichern, würde nur Landratten komisch vorkommen.

      Ohne Ruder an Bord war das alte Dingi auch sicherer vor Dieben. Wahrscheinlich war das Boot schon im Wasser gewesen, als die junge Frau es gefunden hatte. Das Dingi war kein verhätscheltes Bootslift-Baby. Und es hatte auch nicht gehoben an einem Bootskran gehangen. Das hätte ein zügiges Ablegen selbst für einen erfahrenen Seemann erschwert, ganz zu schweigen für eine Frau in Eile.

      Basierend auf dem Boot formte sich in Bens Kopf die Vorstellung, dass die Frau überstürzt einen Ort verlassen hatte, an dem sie nicht sein wollte. Ein Ort nahe am Ufer.

      Ben stand auf und ging hinüber zu dem Spind, in dem er ihre .45er bunkerte. Angenommen, die Waffe war mit dem vollen Acht-Schuss-Magazin in ihren Besitz gekommen. Angenommen, sicherheitshalber, da war auch noch eine Kugel im Lauf, als sie die Waffe bekommen oder genommen hatte. Bei näherem Hinsehen fand Ben eine Kugel im Patronenlager und weitere sechs im Magazin. Die ganze Waffe roch so streng nach Kordit, dass weder das schlechte Wetter noch das Eintauchen im brackigen Wasser am Boden des Boots den Gestank hatten wegwaschen können. Also war die Waffe kürzlich abgefeuert worden. Hatte dieses zarte Geschöpf letzte Nacht zwei, vielleicht drei Schüsse abgegeben? Angesichts des Gesichtsausdrucks bei ihrer ersten Begegnung und der Leichtigkeit, mit der sie die Waffe handhabte, wäre er nicht überrascht.

      Nachdem er das Puzzle mit seiner Erfahrung und Intuition zusammengesetzt hatte, nahm Ben an, dass diese Frau nicht aus freien Stücken nackt ausgerückt war. Jemanden all seiner Kleidung zu berauben, war eine simple Methode, um ihn zu erniedrigen und zu kontrollieren; eine Geisel. Die kürzlich abgefeuerte Pistole bedeutete, dass ihre Abreise mit tödlicher Gewalt vonstattengegangen war. Ihrem Entführer war es wichtig gewesen, sie in der Nähe zu behalten, und er war gewillt, Gesetze auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene zu brechen und sämtliche Regeln des Anstands und der Würde gleich mit.

      Der Lärm der Schüsse hatte ihre Flucht wahrscheinlich verraten. Sie war wohl erfolgreich bis zu einem gewissen Punkt gekommen, aber am Ende doch zu unvertraut mit ihrer Umgebung gewesen. Sie war bis zum Ufer gerannt und hatte in der Klemme gesteckt. Sie war auf einen Steg gestoßen und hatte das Boot gefunden. Ihre schiere Verzweiflung musste so groß gewesen sein, dass ihr die mangelnde Seetüchtigkeit in diesem derben Wetter vollkommen egal gewesen war. Die steifen, wechselhaften Brisen hatten die fehlenden Ruder ersetzt und das Boot vom Steg ins gefahrvolle Unbekannte befördert. Den Tod durch Ertrinken oder Unterkühlung zu riskieren, war immer noch besser als das Schicksal, dem sie entkommen war. Also war sie vermutlich vom westlichen Maryland-Ufer der Chesapeake gekommen. Wie lange war sie nackt durch den Regen und die Dunkelheit geirrt, bis ihr Fluchtweg von Wasser abgeschnitten worden war? Wie lange hatte sie auf dem Wasser getrieben, bis sie in das Wrack der American Mariner gespült wurde? Sein rostendes Heim, einst Refugium seiner vorübergehenden Abgeschiedenheit, erinnerte ihn nun an die Gefängnisschiffe in Dickens Große Erwartungen.

      Die Frau erzählte ihm vielleicht mehr, wenn sie aufwachte. Vielleicht auch nicht. Abgesehen davon war klar, dass Ben keinen Gast hatte. Er beherbergte einen gefährlichen Flüchtling.

      Sie war außerdem ein ungelöstes Problem.

      

       Kapitel 8

       Dunkelheit und Regen überschatteten Maynard Chalks schlechte Erinnerungen an seine letzte Mission, die abgesehen von seinem andauernden Herzschlag ein kompletter Misserfolg gewesen war. Darüber hinaus war Taherehs Gesellschaft damals wie heute sein einziger Trost. Wenigstens blutete sie diesmal nicht aus einem aufgeschlitzten Unterarm oder floh mit ihm vor der unmittelbar bevorstehenden Detonation einer schmutzigen Bombe, und all das in einem beschissenen, kleinen Boot, das in der wütenden Chesapeake zu kentern drohte. Damals war es dunkel und stürmisch gewesen, so wie heute. Das Fiasko hatte erst vor wenigen Monaten stattgefunden, gar nicht weit entfernt von den Wäldern, die sie gemeinsam mit den anderen Zwei-Mann-Teams durchkämmten.

      Die Melancholie, die mit den Gedanken an die Vergangenheit einherging, mit den Verlusten, der Schande und seiner Verbannung von der privilegierten Schicht der Geheimdienstarbeit mit den Eimern voller Schmiergeld, das er abschöpfen konnte, hatte sich noch nicht als rasender Wutanfall niedergeschlagen,

      aber der Tag war noch jung. Wie bei Herpes war der erste psychotische Vorfall meist der heftigste, konnte aber nach längerer Ruhephase wieder auflodern. Als statistischer Ausreißer hatte Chalk bewiesen, dass seine Zusammenbrüche gewalttätig genug waren, um einem Insassen im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence lebenslange Einzelhaft zu bescheren. Er hoffte, dass Tahereh einen Ausbruch rechtzeitig erkannte, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Durch die Nervenschäden war ihr zerfleischter Arm noch immer so gut wie nutzlos, und Chalk wäre nur ungern der Grund für einen Rückfall. Er hatte eine wirkliche Schwäche für diese Frau.

      »Haben sich alle unsere Posten zurückgemeldet?«, murrte er.

      Tahereh trat vorsichtig durch den Nadelwald und leuchtete mit ihrer Taschenlampe links und rechts von der Rasterlinie, an der sie entlanggingen. »Noch nichts von Sanders. Er ist jetzt acht Minuten überfällig.«

      Chalk sprach in sein verschlüsseltes Funkgerät. »Sanders! Wo zum Geier steckst du?« Er bekam keine Antwort außer dem Summen der Elektronik. Chalk drückte wieder die Sprechtaste. »Sanders, ich kürze dir das Gehalt, wenn du dich nicht sofort meldest, du faules Stück Scheiße.« Natürlich war die Androhung einer Gehaltskürzung nur eine Umschreibung für heftige Prügel und möglicherweise Hinrichtung. Chalk berechnete bereits Sanders Wert als Organspender auf dem Schwarzmarkt.

      »Er hatte Sektor Charlie, oder?«

      Tahereh antwortete mit einem geistesabwesenden »Ja.«

      »Wir hätten mehr Hunde besorgen sollen«, regte sich Chalk auf. »Bluthunde. Nicht diese verdammten Rottweiler. Ich hab schon Rennmäuse mit mehr Mumm gesehen. Und warum haben wir eigentlich nur zwei?«

      Tahereh