Zum ersten Mal, seit das Poltern des Dingis ihn vor zwanzig Minuten geweckt hatte, atmete Ben tief durch. Er nahm seine eigene Schüssel in die Hand und war ziemlich zuversichtlich, aber nicht sicher, dass er während des Frühstücks nicht erschossen würde. Auch gut. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Kapitel 5
Joachim DePriest hatte seit drei Jahren kein natürliches Tageslicht mehr gesehen. Und das aus guten Gründen.
Der erste Grund war ziemlich einleuchtend. Er hatte sich unter Tage häuslich eingerichtet, und der Raum, in dem er all seine Zeit verbrachte, besaß keine Fenster. Der Mangel an Fenstern spielte für ihn keine Rolle. Er bekam von der Außenwelt alles mit, was er wollte, auch von den anderen Räumen in seinem Domizil, eingefangen durch diverse Satellitenspeisungen und Überwachungskameras auf zahlreichen Flachbildschirmen, die ganze Wände vom Boden bis zur Decke einnahmen.
Sein Refugium zu verlassen, mochte einmal zur Wahl gestanden haben, aber seit er zum allerersten Mal in sein Reich getaucht war, verließ ihn sämtliches Interesse, je wieder die Welt über sich zu betreten. Jemand, der ihn nicht kannte, hätte vermuten können, dass er unter Agoraphobie litt. Darauf angesprochen hätte DePriest hinsichtlich seiner Wahl der Unterbringung gelächelt, denn seiner Ansicht nach litt er unter gar nichts. Er betrachtete solch kleingeistige Diagnosen, die das Leben anderer, geringerer Männer bestimmten, als nichtig und unbedeutend für einen Mann seines enormen Formats. Sein Leben unter Tage erfüllte ihn mit völliger Genugtuung. In gewisser Weise war er dort geboren worden. Wonach auch immer ihm aus der Welt da oben verlangte, konnte erstanden und geliefert werden. Geld spielte keine Rolle.
Seine freiwillige Entscheidung war für eine Zeit der einzige Grund gewesen, der DePriest von einem Leben in Licht und Luft abgehalten hatte. Heutzutage gab es einen weiteren Faktor, der seine Abschottung vom Rest der Welt garantierte: Joachim DePriest war inzwischen zu dick, um seine Gemächer zu verlassen. Auch wenn er überaus empfindlich gegenüber Spott bezüglich seines Leibesumfangs war, war die einzige Schwelle, die er in letzter Zeit übertreten hatte, jene, die einen Übergewichtigen von den krankhaft Fettleibigen trennte. DePriest war nicht nur einfach dick. Er war ein menschlicher Koloss, eine Flutwelle aus zerfurchten Wogen, Falten und Fettröllchen, die schwabbelten, wenn er lachte oder in Rage geriet.
Er war nicht immer so gewesen. Joachim DePriest hatte seinen bosnischen Namen Dragoslav Demirović vor langer Zeit abgelegt. Diese Bezeichnung lag vergraben in Srebrenica, wo er, sein Vater und seine zwei Brüder 1995 von der serbischen Armee unter Ratko Mladić erschossen und in ein Massengrab geworfen worden waren.
Er hätte sterben sollen, aber ähnlich den muskelbepackten Gladiatoren des alten Roms hatte DePriests fettes Fleisch, das selbst in seiner Jugend üppig gewesen war, das Schlimmste des Angriffs aufgefangen. Obwohl keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, hatte er lange genug aus drei Schusswunden geblutet, um für eine Weile das Bewusstsein zu verlieren, was die Killer am Rande der Grube davon überzeugt hatte, dass er fertig war, auch wenn sie es sicherlich nicht waren. Das Benzin kam als Nächstes.
Die Vollstrecker schütteten den Brennstoff literweise über die Leichen, bevor sie ihn anzündeten. Die infernalische Hitze erreichte den sterbenden jungen Mann durch den Wust der Leiber und setzte ihn dem urzeitlichen Schrecken aus, lebendig verbrannt zu werden. Dann folgte das prasselnde Feuer den Rinnsalen des Benzins und fand schließlich ihn. Andere Opfer, die noch Leben in sich trugen, begannen zu schreien, aber sie verstummten, als weitere Schüsse erklangen. Dragoslavs Gesicht, Kopf und Haare fingen Feuer, aber das Gewicht der Toten auf seinen Gliedmaßen verhinderte, dass er sich verriet. Er kämpfte verbissen darum, keinen Laut von sich zu geben, während seine Ohren, Nase und ein Auge wegschmorten. Er atmete qualmende Flammen ein, versengte seine Stimmbänder. Leiber brannten, platzten und bluteten über ihm, und das strömende Blut folgte dem Benzin nach unten und erstickte die tieferen Brandherde; jedoch erst, als schreckliche Verstümmelung aus einem jungen Mann einen hasserfüllten, schauerlichen Dämon gemacht hatte. Hilflos unter den Leichen ihrer Familie brütend, wurde eine unheilige, groteske und rachsüchtige Seele ins Leben gerufen.
Als das Blut um ihn herum in der Grube gerann und der heiße, erstickende Gestank von Fäulnis seine Lunge füllte und ihm den Atem nahm, gab er sich einen neuen Namen; einer, der niederländisch klang, damit er niemals die Dutchbat-Blauhelmtruppen vergaß, die seine Familie ihren Mördern überlassen hatten. Ein verwirrter, sanftmütiger Achtzehnjähriger namens Dragoslav war in das Massengrab gestolpert und dem Tod überlassen worden; aber das neue Ungeheuer, DePriest, kroch heraus und stieg empor, um alles zu plündern, was ihm in die Finger kam.
Eine junge Frau, die drei Tage nach dem Massaker am Ort des Gemetzels nach ihrem toten Mann suchte, fand stattdessen DePriest und brachte ihn in ihr Heim, um seine Wunden zu versorgen. Aus Dankbarkeit für die Monate der Güte hatte er die trauernde Witwe und ihre junge Tochter auf brutale Weise auf den Strich geschickt, um Liebesdienste an vorbeiziehenden Soldaten aller Nationen zu verrichten. So wie DePriest und seine Familie wilden Tieren überlassen worden waren, um getötet zu werden, so wollte er jeden ausbeuten, dem er begegnete, aber für Profit. Auf diese Weise häufte er ein schmutziges Vermögen durch Menschenhandel an. Er fuhr auch weiterhin damit fort, zwanghaft zu essen und immer dickere Schichten des Fettes anzulegen, das ihn gerettet hatte.
Im Gegensatz zu seiner ungeheuren Masse war DePriests Stimme wegen des Rauchs und der Verbrennungen ein hohes, keuchendes Flüstern geblieben, aber wegen seiner Macht und seines launenhaften, kindlichen Vergnügens daran, anderen wehzutun, versetzte selbst seine leise Stimme jeden, der sie hörte, in Angst und Schrecken. Seine beiden Knechte, Armand und Wallace, waren beides attraktive Männer Ende zwanzig, mit feinen, femininen Zügen, die sie auf DePriests Drängen hin mit Mascara, Eyeliner und Rouge betonten. Sie sprangen immer dann in Aktion, wenn DePriests Stimme durch Wut der schrillen Frequenz eines pfeifenden Wasserkessels gleichkam.
Das Telefon begann zu piepsen, als Wallace und Armand gerade DePriests morgendliche Waschung beendeten. Die beiden Männer ignorierten das flötende Trillern in stiller Dankbarkeit, dass das Unterfangen von DePriests Reinigungsroutine nicht länger beinhaltete, ihn zum geräumigen Duschraum und zurück zu verfrachten. Selbst diese eingeschränkte Fortbewegung war Monate zuvor schon gefährlich geworden. DePriest war ausgerutscht und hatte in einem Desaster, das als die Letzte Dusche bekannt war, Armand unter sich begraben. Wallace hatte eine Stunde gebraucht, um mit dem Schwerlast-Lifter, einer clever umgebauten Maschine, mit der früher LKW-Motoren bewegt worden waren, den erstickenden Armand zu befreien und den hyperventilierenden DePriest zu seinem Bett zurückzubringen.
Heute, wie in jeder Minute jedes einzelnen Tages, thronte DePriest auf einer speziell angefertigten Liege, die sanfte, angenehme Luftzirkulation um seinen ganzen Körper herum ermöglichte. Er schlief auch an der Stelle, aber aufrecht sitzend. Sein Gewicht drückte zu sehr auf seine Lunge, wenn er sich hinlegte. Diese Liege erlaubte auch die ungehinderte Exkretion und Intimpflege, ohne dass er jemals einen Schritt tun musste. Die Knaben, wie DePriest seine Diener nannte, kümmerten sich um alles. Wallace benutzte eine gut geschmierte Pizzaschaufel, um behutsam DePriests untere Speckwülste anzuheben, während Armand Schmutz, Talg und Smegma auswusch und den Bodenablauf hinunterspülte. Er verwendete einen sanften, warmen Strahl aus Wasser, das mit Antibiotika und feuchtigkeitsspendenden Zusätzen versetzt war, um die Entstehung von Infektionen, Druckstellen und unangenehmen Gerüchen zwischen den Bädern zu verhindern.
DePriest streckte seinen gewaltigen Arm aus, packte sein Bluetooth-Headset und stülpte es über seinen runden, haarlosen Kopf. Er betätigte einen kleinen Schalter an dem drahtlosen Gerät und sprach: »Joachim.« Er betonte es JO-akim, in Anspielung auf den hebräischen Ursprung dieses Namens, der von Gott aufgerichtet bedeutete.
Eine Stimme am anderen Ende der Leitung fragte: »Mr. DePriest?«
Der gewaltige Mann korrigierte die förmlichere Anrede des Anrufers nicht. DePriest legte gern ein zwangloses Auftreten an den Tag, aber in seiner Eitelkeit genoss er die Vorzüge, die sein Reichtum und seine bedrohlichen Verschrobenheiten mit sich brachten.