Ben gelangte ans untere Ende einer Niedergangstreppe, der die letzten beiden Stufen fehlten, und setzte seinen Weg entlang des Korridors bis zu einem Laufgang fort, der rund um die obere Ebene des Laderaums führte. Da er dank früherer Patrouillengänge den Rest des Weges auch blind fand, schaltete er die Taschenlampe aus. Zu solchen Gelegenheiten wäre ein Nachtsichtmonokular praktisch gewesen. Sein Freund, Knocker Ellis Hogan, der auf Smith Island an der östlichen Seite der Chesapeake Bay lebte, hatte versprochen, ihm eines zu besorgen. Ellis, der mindestens dreißig Jahre älter als Ben war, wäre beinahe an einer Blutvergiftung gestorben, nachdem er während ihres letzten gemeinsamen Unterfangens verwundet worden war, und erholte sich nur langsam. Ben war niemand, der meckerte, noch würde er Ellis beleidigen wollen, indem er jemand anderes fragte, die Besorgung zu erledigen. Letztlich war dies das Leben eines Mannes auf der Flucht, der für alles auf seine Freunde angewiesen war.
Ben rückte mit verstohlener Vorsicht vor. Er hatte mal gehörte, dass die visuellen Nerven einer blinden Person nicht komplett tot waren, sondern teilweise umfunktioniert wurden, um stattdessen einen größeren Anteil an akustischen Informationen zu verarbeiten und eine Klanglandschaft zu erstellen, durch die der Blinde navigieren konnte. Ben hatte daran keinen Zweifel. Erst als Jäger in den Marschen um Smith Island und dann als Navy SEAL hatte er festgestellt, dass er sich seinen Weg durch absolute Dunkelheit lauschen konnte, wenn er sich entspannte und seinen Ohren erlaubte, durch eine Art Echolotung zu sehen. Anstatt den Widerhall eines langen, weißen Stabes zu analysieren, ließ er sich von den subtilen Änderungen von Brisen und Schritten helfen, die von seiner Umgebung reflektiert wurden, um das Umfeld unmittelbar um ihn herum zu kartografieren.
So faszinierend dieser Supersinn in der Theorie auch war, in dieser Nacht war er ein Zivilist, der weit von seiner Bestform entfernt war, und er vermisste die versprochene Nachtsichtausrüstung.
Ben schob sein Bedauern beiseite und ließ seine Ohren und Finger an die Arbeit gehen. Er tastete sich an der Wand des Laufgangs entlang, wobei er seine Schritte zwischen den Schotts zählte, bis seine Hand lautlos um die Laibung eines wasserdichten Türschotts glitt. Er blieb stehen. Der obere Laufgang des Laderaums lag hinter dieser Türöffnung, aber Ben wusste, dass er ein furchtbares, wehleidiges Stöhnen von sich gab, wenn er sein ganzes Gewicht auf das Metallgitter verlagerte.
Ben lauschte. Das hohle Dröhnen des kollidierenden Objekts, was auch immer es war, war hier lauter, verschmolz aber nun mit dem Rauschen der Wellen, die querschiffs durch die Risse im weiten Raum des Laderaums brachen. Etwas war da unten in der Dunkelheit. Ben musste es sehen.
Er hockte sich hin und richtete die Taschenlampe durch die Tür nach unten, bevor er sie für einen einsekündigen Blick in den Raum anschaltete. Er konnte seinen Augen kaum glauben. Es bedurfte all seiner Willenskraft, um das Verlangen zu bezwingen, das Licht wieder einzuschalten und auf das zu starren, was sich dort unten befand.
Er hielt es für möglich, dass die vom Metallgitter des Laufgangs geworfenen Schatten ihm einen Streich spielten, sodass sein Verstand gezwungen war, die Lücken fantasievoll auszufüllen. Ben erkannte ein Boot, wenn er es sah. Und es war ganz bestimmt nicht sein Schlauchboot, das im gefluteten Frachtraum trudelte. Es war ein altes, weißes Glasfaser-Beiboot, mit einigen Zentimetern Wasser darin. Wie der Baumstamm zuvor musste es durch die klaffende Wunde auf der Steuer- oder Backbordseite des Schiffes hereingespült worden sein. Nach Bens kurzem Blick im schwachen, roten Lichtstrahl zu urteilen, war das Boot kurz davor, durch die schartige Lücke in der Steuerbord- oder östlichen Wand des Laderaums zu verschwinden und in die stürmische Chesapeake zurückzukehren. Dort würde es bei steigendem Wellengang vermutlich volllaufen und bald ganz verschwunden sein.
Normalerweise brächte das Ben nicht in Gewissensnot. Er konnte das Boot nicht gebrauchen, also kam ihm die Bergung für den persönlichen Gebrauch gar nicht in den Sinn. Aus kürzlich mühsam erworbener Erfahrung wusste er, dass die Bergung fremder Boote sehr viel mehr Ärger einbrachte, als es wert war. Abgesehen davon wollte er definitiv nicht, dass jemand auf der Suche nach dem kleinen Beiboot die American Mariner und ihre Umgebung unter die Lupe nahm.
Das Problem lag am Boden des Bootes, wo Ben sich sicher war, eine kleine, dunkel gekleidete, menschliche Gestalt gesehen zu haben; ein Schiffbrüchiger, der Länge nach auf einen Arm gestützt, Kopf gerade so aus dem Wasser und entweder bewusstlos oder tot.
Falls Ben dortblieb, wo er war, wäre es unmöglich zu wissen, ob der unglückselige Eindringling am Leben oder hoffnungslos verloren war. Er riskierte es, den roten Lichtstrahl einmal mehr einzuschalten. Das Boot war dem großen Riss im Steuerbordschott nun näher und kurz davor, auf ewig in die Nacht gespült zu werden.
Bens Instinkt übernahm die Führung und siegte über jeden natürlichen Trieb, sich versteckt zu halten, nichts zu tun und das Problem davontreiben zu lassen. Ohne Zuhilfenahme der Taschenlampe drückte er sich durch die Türöffnung und ertastete sich den Weg zur Steuerbordseite des Laderaums, während er mit sich rang. Wenn schon ein verlorenes Beiboot Aufmerksamkeit erregte, dann würde eine vermisste Person ganz sicherlich für Aufsehen sorgen. Die zuständigen Behörden um die Chesapeake würden in Alarmbereitschaft versetzt werden, falls eine Leiche angespült würde. Ben wäre dann nicht länger sicher. Ganz gleich, ob seine Motive nun selbstlos oder eigennützig waren, er musste etwas unternehmen.
Seine linke Hand ergriff die zweite Leiter an der Wand des Laderaums. In gespannter Erwartung, dass die verrosteten Sprossen unter seinem Gewicht nachgaben, kletterte er hinunter. Als seine Füße auf dem Algenbewuchs der Sprossen zu rutschen begannen, setzte er die Taschenlampe für einen weiteren Augenblick ein. Zu seinem Entsetzen war das Beiboot bereits auf halbem Weg nach draußen. Er ließ die Lampe gerade lang genug an, um sich von der Leiter aus nach der Anlegeleine des Bootes zu strecken. Von seiner niedrigeren Position aus konnte er nicht über das Schandeck auf die reglose Gestalt blicken.
In der Dunkelheit mühte sich Ben ab, das Beiboot entgegen der Wellen zurück in den Laderaum zu ziehen, und machte die Leine mit einem Roringstek an der Leiter fest. Vorsichtig stieg er in das wankende Boot.
Ben ließ sich auf dem schmalen Bugsitz nieder. Er war im Begriff, die Taschenlampe ein letztes Mal einzuschalten, um an dem Körper nach einem Puls zu suchen. Ohne Vorwarnung traf ihn ein Schlag und er sah helle Sterne und Blitze in seinem linken Auge, als etwas Kaltes und Hartes in seinen Wangenknochen gerammt wurde. Er schätzte, es war der eisige Lauf einer Pistole. Das wurde bestätigt, als der Klick des gespannten Hahns über das Heulen des Windes und der rauschenden Wellen hörbar wurde. Ben blieb so bewegungslos, wie das schaukelnde Boot es erlaubte. Eine Hand tastete an seinen Schultern und Armen entlang und entriss ihm schließlich die Taschenlampe.
Als das rote Licht anging, erkannte Bens gutes Auge im blutroten Schein, dass er nun die Geisel eines Kindes war; eines vierzehnjährigen Mädchens, wenn es überhaupt so alt war. Sie zitterte im Wind. Was Ben für dunkle, nasse, anliegende Kleidung gehalten hatte, war ihre schwarze Haut. Das Mädchen war komplett nackt und Wasser schimmerte auf ihrer Haut, das aus ihrem Haar lief. Sie starrte Ben an, aber das Einzige, was er in ihren Augen und an ihrem fest entschlossenen Kiefer sehen konnte, war blanke, schiere Wut.
Oh bitte nicht!, dachte Ben. Nicht so …
Kapitel 3
Das wutverzerrte Gesicht des Mädchens – nein, der Frau – erfüllte Ben mit einer Angst, die ihm so noch nicht widerfahren war. Irgendetwas hatte sie in diese Welt entsandt, so nackt wie am Tag ihrer Geburt und doch so beseelt mit Hass, und Ben war klar, dass sie nur ein winziges Fingerzucken davon entfernt war, das Schott mit seiner Gehirnmasse zu streichen. Er konnte nichts weiter tun, als sich in dem schaukelnden Dingi aufrecht zu halten und zu beten, dass sie seine Versuche, das Gleichgewicht zu halten, nicht als feindselige Handlung verstand und alles beendete.
»Ich will keinen Ärger.«
Als der Druck des Pistolenlaufs auf seiner Wange abnahm, dachte er für