Chalk überbrachte seine Neuigkeit nur ungern. »Mr. D, wir könnten ein winziges Problemchen haben.«
An dem finsteren Blick, der DePriests mondartiges Gesicht verdunkelte, konnten Wallace und Armand abschätzen, dass die häusliche Glückseligkeit ihres Abends gerade den Bach runterging.
DePriest sagte: »So was habe ich nicht. Ich habe dich.«
»Und zwar am Sack, das stimmt wohl. Es geht um die Herde. Eines der Viecher – die kleine Unruhestifterin – ist abgehauen.«
DePriests ausgedehnte Pause diente nicht zur Erhöhung der Dramatik, sondern war eine echte Folge seiner Unzufriedenheit. »Ich weiß es zu schätzen, jede kleine Einzelheit deines Tagesablaufs zu erfahren, Maynard. Wirklich wahr. Aber dies scheint kaum erwähnenswert zu sein, da ich sicher bin, dass du die Ausreißerin längst wieder im Stall unter Dach und Fach hast, gesund und munter.«
»Ich bin ein regelrechter Cowboy, Mr. DePriest, das stimmt schon. Aber diesmal müssen wir wohl einen Verlust verzeichnen. Ausgeschlossen, dass das kleine Kalb den Sprung über den Zaun überlebt hat.«
»Also hast du einen Kadaver. Friere ihn ein bis zur Veranstaltung. Jedes kleine Stück hat einen Wert für die richtige Person.«
»Sorry noch mal. Weg heißt ganz weg.«
Das überraschte Joachim DePriest. »Ein entlaufenes Kalb? Und du kannst es nicht finden?« Er kicherte und keuchte für einen Moment.
Chalk erklärte: »Bisher nicht. Die Sache ist die … sie ist in die falsche Richtung gelaufen. Hat sich wahrscheinlich im Dunkeln verirrt. Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass wahrscheinlich nichts übrig ist, was sich irgendjemand noch anschauen will, von bearbeiten ganz zu schweigen.«
Eine weitere Pause von DePriest. Die Angelegenheit war nun nicht mehr zum Lachen. »Wir haben unseren Bestand mit großer Sorgfalt ausgewählt, Maynard, und mit hohen Kosten. Meine Kosten. Es ist so simpel. Du verwaltest die Ware. Ich bringe die Käufer. Ich verlasse mich auf dich. Aber jetzt schäme ich mich für dich. Ich fange an, deinen Nutzen für mein Unternehmen anzuzweifeln.«
»Schwund war eingeplant. Wir haben Rücklagen, die sich vermutlich viel besser machen, von Anfang bis Ende, also sollten wir …«
»Wir haben eine Ausreißerin«, unterbrach DePriest. »Wir wissen nicht, wo sie ist, und ihr Kopf ist voll schlimmer Gedanken. Falls die Kleine noch am Leben ist, aber außerhalb deiner Aufsicht, dann könnte es Gerede geben. Du verstehst meine Lage, da bin ich sicher. Verstehst du deine Lage, Maynard?«
DePriest beendete das Gespräch, ohne auf Antwort zu warten. Er atmete dreimal tief ein, um sich zu beruhigen, aber er brauchte etwas anderes. Etwas Besonderes. Er zog eine Schnute und sagte: »Armand, ich bin verspannt.«
Wallace warf Armand einen Blick zu, der besser du als ich sagte, und machte sich an die Arbeit. Beide waren heterosexuell, ungeachtet der Kostümerie, die DePriest sie tragen ließ; es gab ihnen eine söldnerische Sicht auf die Dinge, die DePriest verlangte. Ein Job war ein Job – und ihre waren besser bezahlt als die meisten.
Wallace schmierte die Pizzaschaufel erneut, während Armand einen Latexhandschuh über seine rechte Hand zog. Dann, während Armand DePriests linken Oberschenkel und die monströsen Bauchfalten anhob, manövrierte Wallace die Pizzaschaufel sachte unter den gewaltigen Mann und schuf damit einen fettleibigen Tunnel, der zu dem unbesehenen Ziel führte. Armand hatte keinen tröstenden Gedanken für sich, abgesehen davon, dass die äußerst monotone Bewegung, die er gleich wiederholt ausführen würde, seinem rechten Trizeps und Unterarmmuskeln ein enormes Work-out bescheren würde. Was man nicht alles so machte. Aber schließlich war er ein Handlanger.
Kapitel 6
Maynard Pilchard Chalk starrte schockiert auf die zerschmetterten Überreste seines Handys. Er konnte sich nicht daran erinnern, es gegen die Betonwand seines Büros geworfen zu haben, aber er war sich dessen bewusst, dass er schon zu lange seine Psychopharmaka außer Acht gelassen hatte. Das war das Problem mit Psychosen, die Krankheit gaukelte dem Patienten vor, dass alles in Ordnung sei, und häufig auch noch mit dessen eigener Stimme. Davon abgesehen glaubte Chalk nicht, dass die Medikamente ihm dabei halfen, mit den tödlichen Begegnungen umzugehen, die in seiner Branche üblich waren. Tatsächlich fand er, dass die Pillen ihn schwächten und seine Reaktionszeit herabsetzten. Chalk hatte das Gefühl, dass er einmalig war – und einmalig irre zu sein, gefiel ihm und machte ihn seiner Meinung nach unberechenbar. Er trug Chaos wie ein Schild. Man konnte keinen Wirbelwind töten. Auf der anderen Seite bedeutete eine Nichtbeachtung seiner Rezepte noch mehr Schlamassel, den er zu beseitigen hatte, wenn sein Temperament mit ihm durchgegangen war. Ein hoher Preis, aber seiner Ansicht nach fair.
Chalk verstand die Drohung, die DePriest gemacht hatte. Er hatte kein Verlangen danach, mit Armand und Wallace zu tanzen. Nicht so kurz vor Schluss. Nicht so kurz vor dem Zahltag. DePriests Knaben mochten zwar zierlich aussehen, aber sie waren eiskalte Killer. Sie dienten außerdem als persönliches Schutzkommando, und Gott allein wusste, welche Aufgaben sie für den aufgeblasenen Pottwal hinter verschlossenen Türen verrichteten.
Während Chalk sich sammelte, spürte er das volle Ausmaß seines neuen Lebens als gefallener Held. Er hatte Washington, D.C. vor einem Terroranschlag durch eine schmutzige Bombe gerettet, so hatten zumindest die Medien berichtet. Als seine Chefin, Senatorin Lily Morgan, (R) Wisconsin, sich die Anerkennung unter den Nagel gerissen hatte und auf den freien Posten des Ministers für Innere Sicherheit befördert worden war (ein Posten, den Chalk durch die unauffällige Vergiftung ihres Vorgängers erst zugänglich gemacht hatte), vergaß sie alles, was sie ihm schuldig war, und ließ ihn dumm dastehen. Sie ignorierte einfach seine Anrufe. Wenn er hartnäckig blieb, drohte sie damit, ihn vor aller Welt bloßzustellen und sein wahres Ich zu enthüllen: Ein brillanter BlackOps-Stratege, der sich nicht mit Moral, Skrupel oder auch nur dem geringsten Respekt gegenüber menschlichen Lebens aufhielt.
Chalk hatte früher genug Geld auf diversen Konten auf der ganzen Welt für mehrere Lebenszeiten in ausschweifendem Luxus gehabt, aber Lily hatte alles gefunden und entweder eingefroren oder sich angeeignet. Chalk sagte sich, dass es nicht um das Geld ging und dass er nicht für ein Leben weit weg von der Front gemacht war. Lily Morgans Projekte waren ideal für ihn gewesen, da sie von ihrer ganz eigenen Marke an Wahnsinn geprägt waren. Zugegeben, Chalk vermisste die Action. Er machte sich gern die Hände schmutzig, blutig, mit dem zerfetzten Fleisch seiner Feinde tief unter seinen Fingernägeln. Und so hatte er die letzten Mitglieder seines BlackOps-Teams eingesammelt, die nach dem Bombendebakel noch am Leben waren.
Unter dem Deckmantel seiner Scheinfirma, Right Way Umzüge & Lagerung, hatten Chalk und sein sadistischer Kader bei Joachim DePriests faszinierendem Projekt angeheuert. Die Action war gut. Das Geld schadete auch nicht.
Als er sich von den Trümmern seines Telefons wegdrehte, bemerkte Chalk, dass er in dem fensterlosen Büro nicht allein war. Überraschung. Diese psychotischen Ausfälle ließen keine Langeweile aufkommen. Er wusste nie, wo er zu sich kommen würde oder bei wem. Sebastian Kentish, ein sportlicher, rothaariger Brite Mitte dreißig, der vom MI7 vor die Tür gesetzt worden war, stand mit offenem Mund und aufgerissenen Augen da, seine Waffenhand schwebend über seinem Schulterholster unter seiner Jacke. Kentish war als Ersatzmann aus Chalks Niederlassung in Bangkok gekommen, und obwohl er die Gerüchte gehört hatte, hatte er sich noch nicht an die launischen Ausbrüche seines Chefs gewöhnt. Das passte Chalk prima. Er zog es vor, wenn seine Neulinge und erfahrenen Männer gleichermaßen leise um ihn herumtraten, während eine Mischung aus Angst und Respekt ihre Handlungen bestimmte, vor allem, wenn sie nicht unter seinem direkten Befehl standen.
Tahereh Heydar, noch eine Person, die er nicht in seinem Büro erwartet hatte, war eine heimtückische Iranerin von atemberaubender Schönheit. Sie war einst die hochrangigste