Einen Augenblick später stellte Ben fest, dass er immer noch atmete und die stürmischen Wogen der Chesapeake in den Laderaum 2 spülen hörte. Er spürte noch immer den pochenden Schmerz unter seinem Auge, wo die Frau den Pistolenlauf platziert hatte. Dann folgte das knirschende Klappern seiner Zähne, als Ober- und Unterkiefer hart aufeinandertrafen; nicht die Kastagnetten der Angst, sondern von einem harten Schlag unter seinem Kinn. Ben rollte seinen Kopf zu spät zurück und benommen spuckte er Blut, da er sich auf die Zunge gebissen hatte.
Die schmachvolle Angst, im Dunkeln von einem Kind – nein, einer jungen Frau – mit einer Pistole eins übergezogen zu bekommen, verschwand, als sie die rot leuchtende Taschenlampe wieder einschaltete und wortlos auf die Leiter zeigte. Die Frau war zum Heck des Dingis zurückgewichen, außerhalb Bens Reichweite. Kluger Zug. Sie richtete die Pistole auf sein Gesicht und machte eine Aufwärtsbewegung, um ihre Absicht zu verdeutlichen.
Ben richtete sich langsam auf, drehte sich um und zog das Boot an der Fangleine Stück für Stück an die Leiter heran. In dem Augenblick, als er die unterste Sprosse berührte, schaltete die Frau das Licht wieder aus. Nun fragte sich Ben, ob sie versuchte, ihn durcheinanderzubringen, damit er sich die Dunkelheit nicht zunutze machen konnte. Dann ging ihm auf, dass sie womöglich ebenso besorgt war wie er, dass das Licht von jemandem dort draußen auf der windgepeitschten Chesapeake entdeckt werden könnte. Vielleicht war auch ihr Verlangen nach Zuflucht größer als ihr Durst nach Blut.
Es gab immer noch hunderte Möglichkeiten, wie die Sache in die Hose gehen konnte, ob absichtlich oder versehentlich. Langsam kletterte Ben die antike Leiter hinauf und stellte sich auf den Laufgang, seine Arme zur Seite ausgebreitet. Ein weiteres Flackern der Taschenlampe von unten und der Strahl wanderte auf dem Laufgang bis zu einem Punkt etwa sieben Meter von der Leiter entfernt. Ben ging zu der angezeigten Stelle. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, dass der Pistolenlauf stets zwischen seine Schulterblätter gerichtet war. Seine Wirbelsäule juckte an der Stelle, wo die Kugel einschlagen und sie zerschmettern würde. Die Frau machte das Licht aus. Bens Soldateninstinkt riet ihm, zur Leiter zu stürmen, sie hinunterzustoßen und im wogenden Wasser ertrinken zu lassen. Doch sein Selbsterhaltungstrieb, normalerweise in perfektem Einklang mit seinem inneren Krieger, ließ ihn vorerst auf der Stelle stehen, bewegungslos.
Nach nur wenigen gefühlten Sekunden hatte die Frau die Leiter hinter sich gelassen, stand auf dem Laufgang und leuchtete Ben mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht. Sie hielt die Lampe und die Waffe auf Armeslänge von sich, um ihre Nacktheit in den Schatten zu verbergen. Sie hatte das Boot losgemacht, bevor sie die Leiter erklommen hatte, und im düsteren Rot sah Ben, wie das Heck auf einer Welle aus dem Laderaum und in die Bucht verschwand. Das Boot war fort, bis es gefunden wurde oder versank.
Die Frau machte mit der Waffe eine schnelle Drehbewegung, die sagte, er solle sich umdrehen und in Bewegung setzen. Ben hatte genug Erfahrung, um dem Befehl langsam hinzuzufügen. Die Frau war geschickter, als er erwartet hatte. Und alles ohne ein einziges Wort von ihr.
Ben tat, wie ihm geheißen, und ging entlang des Laufgangs zurück zur Schottluke. Die Frau ließ die Taschenlampe die meiste Zeit aus, als sie ihm folgte. Sie bewegte sich geräuschlos und sicheren Schrittes und trotz der Kälte ohne auch nur ein zittriges Einatmen.
An der Luke blieb Ben stehen. Im kurzen Flackern des roten Lichts sah er die verrostete Metalltreppe mit den zwei fehlenden Stufen vor sich. Die Frau hinter ihm war nackt, barfuß.
Gerade laut genug, um über den Lärm des tosenden Wassers im Laderaum gehört zu werden, sagte Ben: »Ich lebe da oben.« Er zeigte hinauf. Dann drehte er sich um, legte langsam seine Jacke ab, ließ sie auf das Deck fallen, stieg aus seinen immer noch offenen Stiefeln und ging in Socken die Treppe hinauf, begleitet von dem eigenartigen Gefühl, immer noch ein Fadenkreuz im Rücken zu haben.
Kapitel 4
So schnell sie auch die Leiter im Laderaum heraufgeklettert war, so dauerte es doch ein Weilchen, bis die Frau in der Tür von Bens Bugkabine erschien, dem ehemaligen Lazarett der American Mariner. Er stellte einen Wasserkessel und eine kleine Pfanne mit Dosengulasch zum Aufwärmen auf einem kleinen Campingkocher. Eine sorgfältig abgedeckte Laterne warf tiefe Schatten in die Ecken, wohin die geisterhaften Phantome Bens nächtlicher Einsamkeit sich fürs Erste verzogen hatten.
Die Frau an der Kabinentür gab ein interessantes Bild ab. Trotz der Gefährlichkeit seiner Lage musste Ben beinahe lächeln. Sie war gerade mal eins-fünfzig groß. Seine Feldjacke hüllte sie in schwere Falten tristen Baumwollstoffes und reichte fast bis zu den Stiefeln hinunter, wo er einen flüchtigen Blick auf ihre gut ausgeformten, kräftigen Waden erhaschte. Sein Künstlerauge bemerkte, dass ihr Gesicht abgesehen von dem finsteren Ausdruck des Misstrauens ein perfektes, hübsches Oval war, in einer Schattierung aus tiefem Braun mit einer Spur Ocker. Ihr schwarzes Haar war kurz geschoren und kräuselte sich dicht an ihren Kopf. Trotz seines Friedensangebots aus Kleidung und Schuhen schmückte sich die junge Frau noch immer mit der Pistole.
Ben sagte: »S'reicht für zwo.«
Er erhielt keine Antwort.
Hinter dem Zorn und der Erschöpfung entdeckte Ben eine exotische Note in den braunen Augen und kräftigen Wangenknochen der Gestrandeten, die zu erklären schien, warum sie noch kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Er nahm an, dass sie nicht aus der Gegend war.
Mit der Waffe auf Ben gerichtet, machte die junge Frau einen selbstbewussten Schritt in die Kabine, blieb aber augenblicklich stocksteif stehen, als sie seine Thunder 380 auf der Holzkiste liegen sah, auf der er sonst Verpflegung zubereitete. Sie zeigte mit ihrer Pistole darauf und machte mit einer Geste klar, dass er sich von der Waffe entfernen sollte.
Ben wappnete sich für einen blutigen Ausgang, falls er falschliegen sollte. Er schüttelte seinen Kopf. Sie gestikulierte wieder, noch energischer als zuvor. Ben sah ihr in die Augen und rührte sich nicht.
Das Gulasch begann zu brutzeln. Der ständige Luftzug unter Deck wehte das verführerische, schwere Aroma von warmem, nahrhaftem Essen durch die Kabine. Ben ging eines der größten Risiken seines Lebens ein, indem er eine Kelle mit Gulasch füllte und in eine Schale löffelte, die auf der Holzkiste neben seiner Pistole stand. Er schöpfte eine weitere Kelle voll Gulasch in eine zweite Schale. Dann legte er Löffel auf die Papiertücher, die für feine Leinenservietten herhielten. Er fragte sich, ob sie mit ihrer freien Hand die Schale oder seine Pistole ergreifen würde – oder ihn einfach erschießen und die Sache beenden.
Sie kam näher. In den besseren Lichtverhältnissen konnte Ben sehen, dass es sich bei der Pistole um eine M1911 Colt .45 handelte. Sie wirkte gewaltig in ihrer kleinen Hand. Obwohl die Waffe drei Pfund wog,
ging sie gekonnt mit der großen Pistole um, als ihr Blick auf der Suche nach weiteren Anwesenden durch den Raum schweifte. Ihr Auge kehrte immer wieder zu Ben und seiner Bersa zurück. Dies war nicht das erste Mal, dass Ben in dem alten Schiff eine Knarre unter der Nase hatte und es wurde langsam lästig.
Mit einem Satz, der einem Mungo alle Ehre machte, sprang die junge Frau zur Holzkiste hinüber, packte Bens kleinere Waffe und stopfte ihre eigene .45er in die Cargotasche der Feldjacke. Dann schnappte sie sich den Löffel und die Gulaschschüssel und zog sich zum Schott neben der Tür zurück. Sie kauerte sich zusammen und fing an zu essen, wobei sie den Löffel in der gleichen Hand hielt wie die Bersa. Auf Ben wirkte die Geste … routiniert.
Interessant, dachte er. Sie traute seiner Waffe mehr als ihrer eigenen. Womöglich hatte sie die Colt im Eifer des Gefechts ergattert oder