Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Müssig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783734321962
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      Drei Orte, drei Menschen, die für Prag stehen, für die einzigartige Poesie dieser Stadt und für die Verbindung aus Tragödie, Tradition und neuem Tempo. Und doch sind diese Begegnungen allenfalls Mosaiksteine. Denn das Bild der tschechischen Hauptstadt changiert in vielen Farben: von goldglänzend bis zu jenen dunklen Tönen, die an die Schreckenszeit der deutschen Besetzung und die lange Unterdrückung im kommunistischen System erinnern.

      Sogar in der Josefstadt und am Wenzelsplatz, den beiden bekanntesten Schauplätzen schlimmer Zeiten, hat sich fröhlicher Alltag durchgesetzt. Jugend aus aller Welt turnt auf dem Denkmal des heiligen Wenzel herum, der Ikone für Einheit und Freiheit aller Tschechen. Koschere Lokale wie das King Solomon in der Nähe der Synagogen sind bei den Feinschmeckern der Stadt so beliebt wie andere kreative Küchen. Und die Pariser Straße, der Prachtboulevard des Viertels, hat sich zu einer Meile teurer Boutiquen entwickelt.

       Sightseeing per Straßenbahn

      Drei Tage reichen für das Gesamtkunstwerk Prag kaum aus, obwohl die Stadt kompakt ist mit ihren 1,2 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von gut 500 Quadratkilometern. Die Straßenbahn stellt hier die ideale Ergänzung zum lustvollen Sich-treiben-Lassen dar. Die Tramlinie 22 zum Beispiel verbindet nicht nur einige herausragende Sehenswürdigkeiten zwischen dem Burgviertel auf der Kleinseite, wie das westliche Ufer der Moldau genannt wird, und der Neustadt auf der anderen Seite. Eine solche Fahrt ermöglicht immer auch einen Seitenblick auf den Alltag der Prager.

      Die berühmte Karlsbrücke allerdings, Wahrzeichen und historisches Bindeglied beider Seiten, ist nur Fußgängern zugänglich, und das in der Regel auch nur im gedrängten Miteinander von Pragbesuchern aus aller Welt. Man mag das alltägliche Spektakel auf dieser 520 Meter langen Brücke touristisch nennen. Aber so ein Spaziergang macht einfach Spaß, er gehört zu Prag wie der Fischmarkt zu Hamburg oder die Tower Bridge zu London. Zwischen den Heiligenfiguren auf beiden Brücken wird Jazz geboten, Scherenschneider, Maler, Schmuckdesigner und ein geschätztes Dutzend T-Shirt-Verkäufer lenken kurzfristig vom Blick auf die Moldau und die Türme an ihren Ufern ab: ein sympathischer Rummelplatz mit Traumkulisse.

      Viele Prag-Besucher bringen ihre Klischees mit an die Moldau. Das Folklore-Bild vom kleinen Volk, das sich mit List, Tücke und Humor über schwere Zeiten der Unterdrückung hinweggesetzt hat, manifestiert sich in liebenswerten Figuren wie dem braven Soldaten Schwejk, dem Überlebenskünstler aus Jaroslav Hašeks Schelmenroman, oder dem Vater-Sohn-Duo Spejbl und Hurvínek, holzgeschnitzte Philosophen des Alltags. Was sich heutzutage eher in Werbetafeln vor Schwejkschen Kellerkneipen oder auf Postkarten findet, hat ja über Jahrzehnte tatsächlich einen wesentlichen Teil des Volkscharakters gespiegelt: Mit hintergründigem Humor und einer offenbar angeborenen Pfiffigkeit haben sich die Schwejks, also vor allem die kleinen Leute dieses Landes, durch schwere Zeiten gerettet.

       Symbol der Hoffnung

      Im Frühling blüht die Stadt auf wie zu keiner anderen Jahreszeit. Im Park hinter dem Palais Lobkowicz, der deutschen Botschaft auf der Kleinseite, lassen die üppig-grünen Bäume kaum die Sicht auf den Balkon zu, von dem Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 den 4000 DDR-Flüchtlingen im Garten die Freiheit verkünden konnte: »Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen …« Der Rest seiner berühmt gewordenen Rede ging damals im Jubel der Botschaftsasylanten unter. Ein Fall für die kollektive Gänsehaut.

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       Das Tanzhaus, 1996 von Frank Gehry erbaut, setzt moderne Akzente im historischen Prag.

      Für Bára, die tschechische Journalistin, die in Hamburg Politik und Osteuropa-Kunde studiert hat, ist das alles Geschichte. Sie war damals zehn Jahre alt, heute wirkt sie wie eine moderne Frau, die kosmopolitisch lebt und denkt, eine typische Vertreterin ihrer Generation. Sie liebt Kaffeehäuser mit Patina wie das Orient. Mehr als 100 Jahre nach der ersten Eröffnung und über 20 Jahre nach der Renovierung fühlen sich in Báras Lieblingstreff wieder viele Literaten und Lebenskünstler zu Hause, auch solche, die ihre Zeitung zum Kaffee vorwiegend auf dem Laptop lesen.

       Heimat der Künstler

      Auch das Louvre oder das Slavia, ebensolche Institutionen, die über alle Stürme der Geschichte hinweg die Wohnzimmer renommierter Musiker und Autoren waren, gehören zu Báras Stammlokalen. Dort haben sie, ob Genies oder verkrachte Existenzen, Karten oder Billard gespielt und die Welt verändert, zumindest bis zum nächsten Morgen: Komponisten wie Bedřich Smetana (1824–1884), Dichter wie Rainer Maria Rilke (1875–1926) und natürlich Franz Kafka (1883–1924). Mit seiner Geburtsstadt verband Kafka zeit seines kurzen Lebens eine ambivalente Liaison. »Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen«, hat er schon als 19-Jähriger behauptet.

      Der Dichter, dessen Werke erst nach seinem Tod Kult und Mythos wurden, ist in einem Denkmal gegenüber der Spanischen Synagoge im alten Judenviertel verewigt, das strenge Liebhaber dieses Weltliteraten als gewöhnungsbedürftig empfinden. Immerhin bezeichnet es einen historisch-symbolischen Ort. Hier verläuft die Grenze zwischen den Vierteln Altstadt und Josefov im Dreieck zwischen jüdischer, protestantischer und katholischer Bevölkerung und Kultur. Außerdem hat die Familie Kafka an mehreren Adressen in der unmittelbaren Umgebung gewohnt.

      Rundgänge auf Kafkas Spuren und durchs jüdische Quartier mit seinen Synagogen und dem Friedhof aus dem frühen 16. Jahrhundert bieten viele Stadtführer an. Man kann sich der Geschichte des ehemaligen Gettos und der 12 000 Grabsteine aber auch ebenso gut allein überlassen. Die berühmten Gräber des Rabbi Löw oder des Bürgermeisters, Mäzens und Rabbiners Mordechai Maisel und anderer bis heute verehrter Gelehrter und Geistlicher wird man leicht finden, weil davor immer Trauben von gläubigen Juden aus aller Welt stehen, die nach der Sitte ihrer Vorväter einen Stein auf die Grabstelen legen.

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       Das mechanische Uhrwerk der Astronomischen Uhr am Alten Rathaus wurde 1410 gebaut.

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       In großzügiger Architektur: Prager Jugendstilcafés.

       Anziehungspunkt Altstädter Rathaus

      Die Beharrlichkeit Prags, von der schon Franz Kafka schrieb, wird aber auch an anderen Stellen offenbar. Etwa in den Pivnices, den klassischen Bierlokalen der Stadt. Nirgendwo kommt man der Seele und dem Herzen der Moldau-Metropole so nahe wie in diesen immer noch größtenteils verräucherten Kellerkneipen. In manchen, wie dem rustikalen U vystřelenýho oka – auf Deutsch »Zum ausgeschossenen Auge« – tobt das Leben schon am frühen Morgen. Anderswo, etwa im gediegenen U medvídků, treffen sich die Prager und Besucher aus aller Welt spätestens gegen Mittag, um zum Budweiser oder zum selbst gebrauten Dunkelbier eine halbe Ente mit knedlíky, hausgemachten Speck- oder Kartoffelknödeln, zu genießen.

      Die meisten Genüsse und Prager Attraktionen müssen mit vielen Menschen geteilt werden: Die Kneipen sowieso, da bringt ja wirklich erst ein volles Haus die richtige Atmosphäre. Aber auch andere Attraktionen werden sehr umlagert wie die Gassen rund um den schönsten Jugendstilpalast, das Gemeindehaus Obecní duům mit seinem feinen Café oder der Platz vor dem Altstädter Rathaus mit der Astronomischen Uhr, an der zu jeder vollen Stunde der Tod die zwölf Apostel paradieren lässt.

       Karlsbrücke ohne Trubel

      Die kulturelle und die kulinarische Vielfalt, die gelassene Freundlichkeit seiner Bewohner und durchaus das, was man Magie nennen darf, der Zauber der goldenen Kuppeln und hundert Türme, haben Prag zu einem Spitzenplatz im europäischen Städtetourismus verholfen. Kein Wunder, dass dabei auch vielerorts die Preise explodiert sind.