Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Müssig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783734321962
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      THEMA

       POLEN AUS KLEINER PERSPEKTIVE

       Zwergenaufstand in Breslau

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       Das Alte Rathaus ist Wahrzeichen Breslaus.

      »Heute hat man mir ganze 493 Mal die Nase gestreichelt. Wenn das so weitergeht, krieg ich eine Plattnase. Was meine Marzenka davon hält, brauch ich dir wohl kaum zu erklären«, beschwert sich Marek, der Feuerwehrzwerg in der Mikolaja-Straße, bei seinem daneben stehenden Kollegen. »Wir haben schließlich Wichtigeres zu tun, als für die Touristen zu posieren. Wissen die denn nicht, dass die Elisabeth-Kirche im vergangenen Jahrhundert insgesamt drei Mal – 1960, 1975 und 1976 gebrannt hat?«

      Nur zwei Stunden Fahrt liegen zwischen der deutsch-polnischen Grenze und einer besonderen Stadt: Breslau besitzt das älteste Rathaus Polens, mittelalterliche Sehenswürdigkeiten, sechs Flüsse und 100 Brücken. Die touristische Erfolgsgeschichte Breslaus reicht viele Jahre zurück, denn hier wurde unter anderem das weltweit zweitälteste Reisebüro eröffnet. Ab dem Jahr 1863 boten die Brüder Carl und Louis Stangen Gruppenausflüge mit der Bahn aus Breslau und aus Berlin an. Kaum jemand weiß, dass es das Stangen-Reisebüro war, das einen Grundstein für den heutigen Tourismus gelegt hat.

       Wroclaws Zwerge

      Wer märchenhafte Atmosphäre mag, kommt in Breslau auf seine Kosten. Im ältesten historischen Stadtteil, auf der Dominsel, stehen an den Straßen immer noch Gaslaternen, die jeden Abend von einem Laternenmann angezündet werden. Außerdem ist Breslau die Stadt der Zwerge. Sind es 300? Oder 400? 500 oder sogar über 600? Ihre genaue Zahl, die man in der Stadt antreffen kann, kennt keiner, nur eines steht fest: Es kommen immer mehr dazu. So ist die »Zwerge-Suche« eine beliebte Beschäftigung sowohl unter den Bewohnern der Stadt als auch unter den Touristen. Angefangen hat alles in den 1980er-Jahren mit der »Orangenen Alternative« in Breslau mit spontanen Aktionen und Demonstrationen im Zwergenkostüm, mit denen Kritik an Polens kommunistischem Regime geübt wurde, und einem gusseisernen Zwerg, dem »Papa Zwerg«, der in der Breslauer Altstadt aufgestellt wurde. Im Sommer 2001 tauchten dann die ersten Zwerge als Projekt von Studenten der Kunsthochschule in der Stadt auf. 2004 wurde der Künstler Tomasz Moczek beauftragt, zwölf weitere Zwerge anzufertigen. Seitdem sind die Figuren in verschiedenen Varianten in der ganzen Stadt verteilt. Anfang 2009 gab es bereits 95 Exemplare, im August 2014 wurde der 300. Zwerg in Breslau aufgestellt, im August 2018 waren es bereits über 600 Zwerge. Die Figuren sind aus Bronze gegossen und haben eine Größe von etwa 30 Zentimetern. Was die Zwerge und Zwerginnen allerdings des nachts so treiben, darüber wird das Mäntelchen des Schweigens gelegt.

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       Auf der Dominsel Breslaus erinnert ein Denkmal an den Märtyrer Johann Nepomuk.

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       Das Rathaus in Breslau wirkt am Abend wie ein Märchenschloss und auf der Dominsel werden die Laternen noch von Hand angezündet.

       Schlesiens Himmelreich

      Auch eine Entdeckungstour zur Breslauer Gastronomie ist angesagt. Auf der Suche nach traditionellen Speisen lohnt es sich, zum Marktplatz zu gehen oder sich entlang der »Route der Geschmäcker Niederschlesiens« durchzuprobieren. Besonders empfehlenswert sind der Breslauer Bigos, die Breslauer Klöße oder das geheimnisvoll klingende »Schlesische Himmelreich«, ein traditionelles Gericht aus Schweinefleisch mit Sauce aus Trockenfrüchten. Oder man fragt einfach Zwerg Franek, denn der weiß immer, wo man Hunger am besten stillen und Durst am besten löschen kann und wo und was das Breslauer Zwergen-Philharmonie-Orchester spielt. Danach hält man es wie die Sisyphus-Zwerge, die zeitgleich und in entgegengesetzter Richtung drücken und schieben: Soll ich Breslau verlassen oder doch lieber noch ein paar Tage bleiben? Fragen Sie den Papa-Zwerg, sein Grinsen ist Antwort genug.

      Info: www.visitwroclaw.eu

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       Die Anzahl der Zwerge in Breslau kennt keiner so genau, nur eins ist sicher: Es werden immer mehr und sie erfreuen alle Besucher.

      image PRAG – DIE UNTERSCHÄTZTE SCHÖNE

       Tradition, Tragödie und neues Tempo

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       Die tschechische Metropole ist »eine Verführerin mit tausend Schleiern«, wie Miloš Forman gesagt hat. Und sie lässt einen nicht mehr los, befand Franz Kafka, einer der großen Söhne der Stadt, vor mehr als 100 Jahren. Bis heute ist Prag eine Stadt voller Magie. Ihr Herz schlägt unter goldenen Dächern, in historischen Kaffeehäusern, Kellerkneipen und im alten Jüdischen Viertel.

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       Ein Einblick ins mittelalterliche Prag bietet der Alte Jüdische Friedhof. Aus Platzmangel begrub man die Verstorbenen in bis zu zwölf Schichten.

      Die kleine Galerie, in der es vergilbte Fotos, neue Grafik und böhmisches Kristallglas zu kaufen gibt, passt zum Burgviertel und seinen engen Gassen. Und die alte Dame, die ein aus der Zeit gefallenes Deutsch spricht und anrührend erzählt von der bitteren Vergangenheit und der lebensfrohen Gegenwart, passt zu diesem Laden. Diese zufällige Begegnung wiederum passt zu Prag, dieser vibrierenden und zugleich an so vielen Stellen melancholisch wirkenden Metropole. Auch das Grand Café Orient, nur ein paar Schritte vom Platz der Republik entfernt, gilt als ein solcher Platz, an dem sich die Zeiten und Welten begegnen. Das Orient, ein Hort des Kubismus und eine Herberge der Nostalgie, ist eines der sechs oder sieben erhaltenen unter den legendären Kaffeehäusern, in denen sich einst die Elite der deutsch-jüdisch-österreichisch-tschechischen Dichter, Denker und Komponisten getroffen hat. Für die Prager Journalistin Bára Procházková bis heute ein inspirierender Ort.

      Aharon Ester gehört zu den engagierten Mitgliedern der kleinen jüdischen Gemeinde von Prag, die einmal eine der größten in Europa war. Der junge Historiker führt Besucher auf dem Friedhof aus dem 15. Jahrhundert zum Grab des Rabbi Löw, einer Symbolfigur des mystischen Prag. Für die Gäste sortiert Aharon Eindrücke aus den sechs Synagogen der Josefstadt, dem ehemaligen Wohnviertel der Juden, er ordnet Stilrichtungen, Jahreszahlen, einstige Bedeutung. In der Pinkas-Synagoge jedoch, vor den Zeichnungen der Kinder aus dem KZ Theresienstadt, die sie kurz vor ihrer Ermordung gemalt haben, bleibt nur stumme Fassungslosigkeit.

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       In goldenem Licht: Nachtspaziergang über die Karlsbrücke.

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       Der Altstädter Brückenturm über dem ersten Brückenpfeiler stammt aus dem 14. Jahrhundert.

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       Das Jan-Hus-Denkmal und die Teynkirche am Altstädter Ring.

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