»Achte mal auf die Macchia und die niedrigen Büsche zu unserer Rechten«, überraschte ihn Toninos Geflüster. »Gewiss wirst du bemerken, dass sie sich in einer logischen Ordnung befinden und dass sie sorgfältig gepflegt sind. Sie versperren nämlich dem Unbefugten den Blick auf diesen Pfad.«
Zwei, drei Schritte später blieb Siniša zum ersten Mal stehen und sah sich gründlich um. In der Tat, das niedrige Gebüsch am Wegesrand, in dem nur hin und wieder ein verkümmertes Bäumchen stand, verdeckte von der Meerseite her vollständig den Blick auf den Pfad. Doch noch neugieriger machte ihn die Bucht selbst. Vom Boot aus hatte er das nicht wahrgenommen, aber von hier aus wirkte die Bucht von Drittchen wie ein Binnensee, vollständig von Land umgeben. Dort, wo das Land am flachsten war, im Nordwesten, wenn es überhaupt Nordwesten war, konnte man unter den niedrigen Wolken den gleichmäßigen, blassrötlichen Widerschein des weit entfernten Leuchtturms sehen.
»Du meine Güte! Ihr habt euch aber fein versteckt, was?«, fragte Siniša Tonino. Der zuckte nur mit den Schultern und verzog den Mund zu einem etwas dümmlichen Grinsen.
»Ist das dort das Licht von einem Leuchtturm?« Siniša zeigte mit dem Finger in die Richtung. Tonino starrte den Widerschein auf den niedrig hängenden Wolken an und zuckte ein wenig mit seinem Kopf nach hinten. Sein Gesicht nahm augenblicklich den Ausdruck eines Kindes an, das zum ersten Mal ein faszinierendes Bild sieht.
»Siehst du es? Das rötliche Licht da hinter dem Berg«, fragte Siniša weiter. »Hallo, Tonino, hier spricht die Erde … Hey!«
»Lossense, Beautrotto, Tonino issschou … Es wird schou, wie immor«, wandte sich der Mann an ihn, der ihn am Ufer begrüßt hatte.
Siniša holte tief Luft und stieß sie kräftig aus, bevor er sagte:
»Mein Herr, ich verstehe kein Wort. Wie ich sehe, ist mein Dolmetscher zu einem Felsen erstarrt. Ich erinnere daran, dass ich seit zehn Stunden unterwegs bin und zu müde, um mich an den heiteren Inselbräuchen zu beteiligen. Was zum Teufel geschieht hier eigentlich?«
Das Gesicht des Bauern verkrampfte sich zu einer angestrengten Grimasse, eine Anstrengung, die nötig war, um etwas zu sagen, was dieser Beautrotto verstehen konnte:
»Allen Tag – geht es – Tonino – sou. Doch in feif Minuts is passe. Nating!«
»Wie, er erstarrt für fünf Minuten? Er erstarrt und schaltet sich sozusagen ab?«
»Jes.«
»Und dann kommt er zu sich und alles ist beim Alten?«
»Pasitiv.«
Die anderen Bauern bekräftigten jeden Satz ihres Sprechers mit heftigem Kopfnicken.
Zum ersten Mal seit beinahe zwanzig Jahren fiel Siniša wieder ein Junge ein, der ungefähr in der fünften Schulklasse in sein Wohnviertel gezogen und schon im nächsten Sommer wieder fortgezogen war. Mit ihm war etwas Ähnliches geschehen, und beim ersten Mal war es am schlimmsten gewesen. Sie spielten damals vor der Schule Fußball und hatten den Neuankömmling ins Tor gestellt. Genau in dem Augenblick, in dem er ein wenig nach vorne hätte laufen sollen, erstarrte er. Die ganze Mannschaft schrie ihn an, weil der Ball an ihm vorbei ins Netz rollte, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Ein verrückter Junge, den die Kinder Fisch nannten und der für die gegnerische Mannschaft spielte, begriff die Lage als Erster und begann, um den Ziegelstein, der als Pfosten diente, herumzudribbeln. »Tor … Tor … Tor … Und noch ein Tor …«. Alle anderen Jungen waren erschrocken, nur der Fisch kickte den Ball. Nach seiner Rechnung stand es schon 32:1, als der Kleine unter die Lebenden zurückkehrte. Er stand verwirrt da, schaute alle an und wiederholte nur: »Wat is passiert? Wat is passiert?« Der Arme! Seitdem war er ein- bis zweimal in der Woche in seine autistischen Gruben gestürzt, später sogar jeden Tag. Gerade als er und die ganze Schule sich daran gewöhnt hatten, kam der Sommer und der Kleine zog mit seinen Eltern fort; wie es hieß, nach Slowenien, des Klimas wegen. Siniša hatte sich seitdem vielleicht zwei- oder dreimal an ihn erinnert. Und nun war ausgerechnet der Doppelgänger des Jungen seine einzige Verbindung zur mehr oder minder logisch geregelten Welt.
»Was tun wir jetzt? Kommt er wirklich in fünf Minuten zu sich oder holt er sich eine Lungenentzündung?«
»Noi kounnen go, er koumschou hinter ouns …«
»Und was, wenn er zu schlafwandeln beginnt und ins Meer fällt?«
»Dount bi afrejd. Er mouvt nie, nichmol for oun Haar.«
»Hmm … Wenn ich Sie richtig verstanden habe, schlagen Sie vor, dass wir weitergehen, und er kommt hinterher, sobald die Starre vorbei ist?«
»Pasitiv!«
Siniša versuchte, das Zeitungsbündel von Toninos Schulter zu nehmen, um wenigstens seinen Schatz vor dem Regen zu retten, doch die Finger des Unglücklichen umklammerten – blau vor Anstrengung – die Schnur.
»Na gut, dann lasst uns gehen«, sagte Siniša.
Hundert Meter weiter bog der Pfad hinter dem Berghang nach links ab. Toninos Platz neben Siniša und hinter dem Esel übernahm der dubiose Chef des Empfangskomitees. Er war vielleicht schon siebzig, klein und breit, mit unverhältnismäßig großen Händen, in einem einigermaßen gut erhaltenen schwarzen Anzug und mit abgenutztem Hut. Auf Siniša wirkte er wie ein sizilianischer Don alter Schule. Wer weiß, dachte er, vielleicht hat der Alte innen an der Haustür zwei abgesägte Doppelflinten hängen, gesichert, aber immer geladen … Der Regen ließ nach und der Wind wurde, nachdem er die Richtung gewechselt hatte, immer kälter. In der Kurve blieb Siniša noch einmal stehen und drehte sich um. Tonino stand noch genauso da wie zuvor, einem Denkmal ähnlich, dem Denkmal eines legendären Helden, der für alle Zeiten über den Frieden und die Sicherheit der Bucht wacht.
»Du lieber Gott …«, murmelte Siniša mehr für sich selbst und warf dann seinem Sizilianer einen Blick und ein Lächeln voller Mitleid zu. Dieser antwortete mit einem identischen Lächeln und mit einem kurzen, schwachen Schulterzucken, legte dann seine dicke Hand auf Sinišas Rücken und schob ihn behutsam nach vorne.
»Go …«
Siniša erwartete, dass hinter der Kurve die ersten Häuser zu sehen sein würden, doch da war nur die Fortsetzung des Pfades, der nun in einen engen Pass zwischen zwei Hügeln eingehauen war. Er führte nur bis zur nächsten Kurve, leicht ansteigend. Siniša verspürte plötzlich das starke Bedürfnis, auf diesen hundert Metern mit jemandem zu reden, wenn es sein musste, auch auf Suaheli.
»Hat dieser Pfad einen Namen? Eine lokale Bezeichnung?«
»Pfad no«, antwortete der Eingeborene, blieb kurz stehen und zeigte mit einer Armbewegung auf den linken, höheren Hügel, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. »Aba hieris Vorder Mur und dourtis, ouf dis Soit, Hinter Mur. Frant Wol – Sekend Wol …«
»Ah so! Das hier ist also die Vordere Mauer und das ist die Zweite Mauer. Entschuldigen Sie, aber Sie sprechen auch eine Art Englisch, oder nicht?«
»Stralisch.«
Stralisch, Stralisch, wiederholte der Regierungsbeauftragte für sich und versuchte sich zu erinnern, wo er das schon gehört haben konnte und was es bedeutete.
»Ah, Australisch! Stralisch – Australisch! Habe ich Recht? Sehen Sie, ich bin nicht einmal eine halbe Stunde hier und mache schon Fortschritte!«, quasselte er und wunderte sich selbst über sein Brabbeln. Der Alte nickte ernst mit dem Kopf, und das ermutigte Siniša, weiter munter drauflos zu plappern.
»Aj Siniša!« Er schlug sich auf die Brust und legte dann seine Hand auf die Schulter seines Gesprächspartners. »End ju?«
»Mi