»Tonino, zeig mir vor der Versammlung das Dorf.«
»Gerne! Mit dem größten Vergnügen! Gedulde dich bitte nur fünf Minuten, damit ich mich auch ein wenig zurechtmachen kann. Nimm doch noch einen Kaffee, da ist noch welcher in dem Espressokännchen, Milch ist auch da. Ich komme gleich zurück.«
Er verschwand für eine Viertelstunde und erschien dann mit nassem, gekämmtem Haar und in einem alten schwarzen Anzug mit viel zu kurzen Hosenbeinen in der Tür. Siniša hatte in der Zwischenzeit gar nicht versucht, mit dem Alten zu kommunizieren. Er hatte sich entschlossen, darauf zu warten, dass der Gegner als Erster seine Schwachstellen entblößte. Und als Banderas (dieser Gedanke war der erste, der ihm in den Sinn kam: »Schau dir den mal an – Antonio Banderas!«) endlich in der Küchentür stand, war der Beauftragte schon mit seinen dünnen Abstinenzlernerven am Ende. Er überlegte gerade, wie er es anstellen könnte, dem Alten eine Zigarette zu stibitzen, ohne dass der es merkte.
»Jetzt musst du ein wenig auf mich warten«, sagte er. »Ich gehe nach oben, meine Jacke und meinen Notizblock holen.«
Als sie etwas später hinter der ersten Ecke verschwunden waren, fragte er Tonino:
»Du hast da oben meinen Nachttopf geleert und ausgewaschen?«
»Was meinst du? Ach das … Ja, das war ich, wer denn sonst? Wir drei sind die einzigen Hausbewohner.«
»Tonino, das war mein Nachttopf. Ich meine, die Verpackung gehört dir, aber der Inhalt ist von mir. Ich hätte das früher oder später alleine gemacht, so kommt es mir wirklich blöd vor, ich meine …«
»Reg dich doch nicht wegen Kleinigkeiten auf. Was meinst du denn, was ich tagaus-tagein mit meinem Vater mache? Wer leert alle naselang seinen Topf unter dem Sitz aus? Und er konsumiert auch noch Bier wie ein Verrückter!«
»Okay, aber wir kennen uns gerade mal einen halben Tag, und du hast meinen Nachttopf geleert, mein Bett gemacht … Ich komme mir ziemlich blöd vor. Lass uns eine Sache klären: Wenn ich dich nicht darum bitte und nicht nach dir rufe, komm nicht in mein Zimmer, solange ich bei euch bin. Okay?«
Tonino schwieg ein paar Sekunden.
»Okay, wenn du es so wünschst. Sag mir nur, ob dir der Blick aus dem Fenster heute früh gefallen hat? Dieser Unterrock in der leichten Brise …«
»Was für ein Unterrock?«
»Gestern Abend habe ich den alten Unterrock meiner Mutter, einen schneeweißen, aus dem Fenster im Dachgeschoss gehängt, damit du ein schönes Bild vor Augen hast, wenn du morgens die Augen öffnest.«
Siniša blieb stehen.
»Tonino, sag mal, treiben dein Alter und du jeden Beauftragten in den Wahnsinn?«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Falls du den Unterrock meinst: Dieser Gedanke kam mir erst gestern in den Sinn, als du auf dem Boot geschlafen hast. Ich habe ihn für keinen deiner Vorgänger aufgehängt. Um ehrlich zu sein, habe ich ihn seit dem Tod meiner Mutter nie aus der Truhe herausgenommen.«
»Mein Gott, mein Gott, mein Gott … Okay, okay, alles klar. Danke für die Aufmerksamkeit, ich bin wirklich gerührt, aber tu das nicht mehr. Und jetzt zeig mir bitte die Sehenswürdigkeiten von Drittchen. Wir können zum Beispiel mit diesen Solarzellen auf den Dächern beginnen.«
Anderthalb Stunden später trat der achte Regierungsbeauftragte auf der Insel Drittchen nicht vor die versammelten Einwohner, sondern vor den Altar der leeren Kirche des Hl. Eusebius. Volle fünfzehn Minuten nach dem vereinbarten Termin hatte sich draußen, wo man sich verabredet hatte, noch niemand blicken lassen. Und nicht nur die Loggia, sondern der ganze Place (der Name der Hauptstraße war nur ein Bruchteil dessen, was Siniša während des Morgenspaziergangs von Tonino gelernt hatte) war leer, noch leerer als der Kopf des Beauftragten, aus dem alles, was früher gewesen war, und alles, was er an diesem Morgen gelernt hatte, wie geschmolzenes Blei in die Beine geflossen und zwischen Schuhsohlen und Steinplatten hart geworden war. Niemand war zur Versammlung erschienen! Damit hätte er natürlich von vornherein rechnen müssen, dieser Ort war ja nicht umsonst zur Richtstätte aller seiner sieben Vorgänger geworden, aber andererseits … Es war ein Boykott epischen Ausmaßes, das schlimmste Ereignis in Sinišas gesamtem Politikerleben, niederschmetternder sogar als die Affäre, die ihn hierher gebracht hatte. Es war wohl schon einmal vorgekommen, dass zu einem seiner Vorträge oder zu einer Pressekonferenz nur zwei Leute erschienen waren, die sich verirrt hatten oder zu kommen gezwungen worden waren, aber das hier war eine ganz neue Erfahrung. Und nach all dem, was er in den letzten anderthalb Stunden von Tonino gehört hatte, wirkte es noch schrecklicher.
»Irre!«, rief er, als er sich vom Altar zu Tonino umdrehte, der in dem kleinen Türrahmen des Kircheneingangs stehen geblieben war, eine schlaksige Silhouette im Gegenlicht. »Ihr seid alle irre«, fügte der Beauftragte leiser hinzu. »Du auch, genau wie all die anderen. Was macht ihr hier eigentlich? Was wollt ihr hier eigentlich aufbauen? Eine Utopie, ein Arkadien, was für einen Scheiß?«
Tonino hüstelte kurz:
»Ähm, die Kirche …«
»Was für eine Kirche? Ihr habt keinen Priester, keine Messe, dieser Typ da oben auf dem Bild ist eindeutig der Heilige Georg, es sei denn, Eusebius war in seiner Jugend ein Ritter, der es später bereut hat! Wovon redest du, Mensch?!«
»Wie soll ich sagen, hm, auch das ist eine lange Geschichte. Das hier ist tatsächlich ursprünglich die Votivkirche des Hl. Georg gewesen, aber im sechzehnten Jahrhundert, wenn ich mich nicht irre …«
»Ach, lass mich doch in Frieden! Du und deine Geschichten. Und das Weihwasser hier – die Tatsache, dass es stinknormales Meerwasser ist, hat sicher auch eine lange Geschichte?«
»Ich kann sie zu diesem Anlass auch kürzen. Vielleicht hast du gehört, dass in den konservativen katholischen Gegenden am Meer der Priester nach Ostern das Meer segnet. Wir aber haben keinen Pfarrer hier auf der Insel, und das schon seit beinahe sechzig Jahren. Wir haben also keine befugte Person, die normales Wasser segnen könnte. Doch wenn du dich an das antike Sprichwort erinnerst, nach dem man ›einen Finger in das Meer hält, um so mit der ganzen Welt verbunden zu sein‹, dann ergibt sich, dass das einzige gesegnete Wasser auf dieser Insel das Meerwasser ist. Also …«
Siniša zuckte hilflos mit den Schultern.
»Logisch. Alles sehr logisch. Aber das bedeutet nicht, dass ihr alle zusammen nicht total verrückt seid. Du bist mir zwar sympathisch, aber du bist auch vollständig verrückt.«
»Ich versuche nur, hilfsbereit zu sein. Auf dieser Insel wirst du garantiert keinen zweiten finden, der das ist. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich bin dein einziger Freund, zumindest vorerst.«
Mitten ins Herz getroffen, hakte sich der Beauftragte bei seinem Übersetzer ein, führte ihn aus der Kirche und setzte ihn in die nächste Ecke der Loggia.
»Gut, mein einziger Freund, wie auch immer. Verzeih mir, wenn ich dich beleidigt habe, es war nicht meine Absicht, aber all das, was du mir erzählt hast, und dann noch dieser totale Boykott … Komm, sag mir, was werden wir jetzt tun? Ich bin ja neu hier, und du hast sicher Erfahrungen mit solchen Situationen.«
»Ehrlich gesagt: Wenn du jetzt durch das Dorf gehen würdest, um dich zu erkundigen, warum niemand gekommen ist, würden dir gewiss alle sagen, dass es ein Missverständnis gewesen sei und dass sie es so verstanden hätten, als sollte das Treffen um elf Uhr abends stattfinden. Darauf solltest du dich aber nicht einlassen. Würdest du nämlich tatsächlich ein Treffen eine Stunde vor Mitternacht einberufen, dann würden sie dich für geisteskrank erklären, für unzurechnungsfähig, und danach würden sie jede weitere Initiative von dir ignorieren. Und das so lange, bis du wirklich unzurechnungsfähig geworden bist. Wie der dritte Beautrotto. Oder der vierte. Warte mal – der dritte oder der vierte?«
Tonino verfiel tief in Gedanken und versenkte sich in die Analyse dieses Dilemmas, als wäre